Opfer werden zu Mörderinnen gestempelt

■ Notwehr nach Vergewaltigung führt in Zypern zur Mordanklage / Aus Famagusta Ömer Erzeren

Beim Zelten im türkisch besetzten Teil Zyperns wird eine Frau in Gegenwart ihrer Mutter vergewaltigt. Die Frauen wehren sich, der Vergewaltiger wird getötet. Das Gericht in Famagusta, das die Zulässigkeit der Anklageerhebung prüfen muß, läßt eine Anklage auf „vorsätzlichen Mord“ oder auch auf „Totschlag“ zu, ganz im Sinn der männlichen Bevölkerung, für die Vergewaltigung offenbar ein „Kavaliersdelikt“ ist.

„Mit Rauschgift und Alkohol haben sie Gruppensex getrieben.“ - „Die Frauen sind pervers und haben den Jungen zuerst verführt und anschließend ermordet.“ - „Der Junge hat es mit der Tochter getrieben, deshalb hat die Mutter ihn umgebracht.“ Bereits früh morgens hocken Dutzende Sensationslüsterne in der Cafeteria des Distriktgerichts im nord-zypriotischen Famagusta. Sie sind gekommen, um an der Vorverhandlung gegen die 48jährige Berliner Lehrerin Ute Loh und ihre 20jährige Tochter Melanie Loh teilzunehmen. Der Staatsanwalt fordert die Bestrafung der Angeklagten wegen „vorsätzlichen Mordes“ oder zumindest wegen „Totschlags“ an dem 20jährigen Özmen Tulga. Nach Darstellung der beiden Frauen war es Notwehr gegen ein Verbrechen. Mehrfach habe Tulga Melanie Loh vergewaltigt. Während der gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen Vergewaltiger und Opfern sei Tulga gestorben. Doch Vergewaltigung ist kein Thema, das in der Cafeteria des Gerichts des Nachdenkens und der Rede wert wäre. Eine „sex and crime story“, die den Wünschen ordentlich biederer Bürger gerecht wird, hat das unangenehme Kapitel Vergewaltigung auszuschließen - in Zypern wie anderswo. „Die Rache-Mutter von Zypern: War's Eifersucht auf die Tochter?“ titelte 'Bild‘ über den Prozeß. „Ist hier einer jünger als 16 Jahre?“ ruft der smarte Gerichtsbedienstete mit einem süffisanten Lächeln in Richtung Zuschauerbänke. Die Männer - eine erdrückende Mehrheit im Gerichtssaal - lächeln zurück. Das erwartete Schauspiel verheißt Befriedigung.

Angelsächsisches Recht

Ein Busfahrer, der statt der zugelassenen 45 Personen 51 Personen beförderte; ein Autofahrer, der seinen Sicherheitsgurt nicht anschnallte; ein Hauseigentümer, der seinen Brunnen nicht ordnungsgemäß absicherte - routiniert und schnell fällt Richter Mustafa Güzoglu die Urteile. Wenn er einen Verkehrssünder zu einer Geldstrafe verurteilt, fehlt nicht der väterliche Blick: „Tue es nicht noch einmal.“ Spürbar ändert sich sein Verhalten nach Beginn der Verhandlung gegen die beiden Frauen. Ein solcher Prozeß ist ihm lästig. Im Rahmen des Möglichen versucht er Blicke in Richtung Anklagebank zu vermeiden. Mustafa Güzoglu wird in diesem Prozeß kein Urteil fällen. Aus den Zeiten des britischen Empire hat sich hier das angelsächsische Rechtssystem erhalten. Das Distriktgericht hat in einer öffentlichen Vorverhandlung zu prüfen, ob die von der Staatsanwaltschaft vorgebrachten Beweismittel ausreichend sind, um eine Anklageerhebung vor dem Strafgericht zu rechtfertigen, das geforderte Strafmaß wird bewußt offengelassen.

Die Fakten bis zur Nacht vom 23.März sind klar. Um ihren Urlaub im türkischen Nordzypern zu verbringen, reisen die Lehrerin Ute Loh und ihre Tochter Melanie am 18.März ein. Am 21.3. sind sie im Dorf Yeni Erenköy. Mit ein paar Brocken Türkisch und Englisch erfolgt die Verständigung. Die Berlinerinnen suchen einen Zeltplatz. Wenige hundert Meter vom Haus der Familie Tulga entfernt bauen sie das Zelt auf. Von diesem Haus holen sie Wasser, waschen dort Wäsche. Am Nachmittag des 23.3. verlegen sie den Standort des Zeltes an einen Platz an der Küste, rund zwei Kilometer vom Dorf entfernt. Wenige Stunden später ereignete sich das Schreckliche.

Dem Gericht liegen die in der Tatnacht aufgenommenen Aussagen der beiden Frauen vor der Polizei vor. Melanie Loh: „Meine Mutter und ich lagen im Zelt. Ein Mann öffnete das Zelt. Er hielt einen Knüppel in seiner Hand. Ich kannte ihn nicht, ich sah ihn zum ersten Mal. Mit dem Knüppeln und mit Fäusten schlug er auf meine Mutter und mich ein. Ich versuchte mich zu verteidigen. Als meine Mutter am Boden lag, zog er ihre Hose aus. Dann wandte er sich zu mir. Er zog mich aus. Nachdem er Hose und Unterhose ein wenig hinuntergezogen hatte, vergewaltigte er mich. Er drohte mit dem Knüppel. Während sein Penis in meiner Vagina war, schlug er auf meine Mutter ein, die heulend und schreiend neben uns war. Sie sollte wegblicken.“ Die Aussagen der beiden Frauen sind detailliert. Ein Bild des Grauens. Nach der zweiten Vergewaltigung, gab Melanie Loh zu Protokoll, habe sie mit Fäusten auf die Hoden des Mannes geschlagen. Ute Loh: „Er schlug auf uns, wir auf ihn ein. Während des Handgemenges biß ich in seinen Penis. Mit Zeltstangen schlugen wir aufeinander. Ein Gürtel fiel uns in die Hände. Während des Kampfes am Boden legten wir den Gürtel um seinen Hals und drückten zu.“

Eine Reihe von Indizien bekräftigen die Aussagen der beiden Frauen. Medizinische Gutachten attestieren Gewaltspuren am Körper der beiden Frauen und des Mannes. „Die beiden Frauen waren verletzt und verstört“, sagt der Polizeibeamte Türkay Türet aus, der die Frauen wenige Stunden nach dem Vorfall im Haus der Familie Tulga sah. Ute Loh muß ins Krankenhaus eingeliefert werden. Der Polizist Türet ist auch einer der ersten, die am Tatort eintreffen. Zusammen mit Melanie Loh und zwei anderen Männern fährt er zum Ort des Geschehens. „Ich sah Özmen Tulga tot am Boden liegen. Um seinen Hals war ein grüner Gürtel. Seine Hose und seine Unterhose waren bis zu den Knien heruntergezogen. Seine Schuhe lagen neben ihm.“ Der Richter weist den Gerichtsbediensteten an, Beweisstücke

-die Kleider des Toten - beizubringen. Ein zerrissenes Hemd, eine aufgerissene Jeanshose, weiße Turnschuhe kommen zum Vorschein. Als der Gerichtsbedienstete die Unterhose aus dem Packpapier auspackt, interveniert der Richter. „Schon gut, schon gut.“ Ute Loh verschließt erstmalig während der Prozeßdauer die Augen.

Alle Zeugen bestätigen, daß der Tote Özmen Tulga bis zur Tatnacht die Frauen nicht gekannt habe. In den ersten Tagen, als die Frauen nahe des Hauses der Familie Tulga zelten, besteht Kontakt zu den Schwestern und der Mutter. Gülisar Yesilbulut, die Schwester Özmen Tulgas, sagt aus: „Sie kamen zum Wäschewaschen. Ich zeigte ihnen danach die Wäscheleine, wo sie die Wäsche aufhingen. Ich lud sie ein. Im Haus tranken wir Tee.“

Ohne zu wissen, daß es das Haus des mutmaßlichen Vergewaltigers ist, pochen Melanie und Ute Loh später wieder an die vertraute Tür. Die Zeugin Yesilbulut: „Ich sah mit meiner Mutter fern. Wir warteten auf meinen Bruder. Meine Mutter öffnete die Tür. Die Frau fiel in die Arme meiner Mutter. Ich hatte Angst, ich schrie.“ Mit Verletzungen, die Kleidungsstücke zerrissen und blutüberströmt, stehen die Touristinnen vor der Tür. Wieder die lange Suche des Gerichtsbediensteten nach den bestimmten Kleidungsstücken. Ein weißer Rock ist nach minutenlangem Wühlen nicht auffindbar. Ein Lachen geht durch die Zuschauerbänke.

Die Zeugenaussagen werden von einem Dolmetscher ins Deutsche übersetzt. Ein deutsches Kauderwelsch, dem nur mit Mühe und Konzentration zu folgen ist. Häufig werden die Fragen des Staatsanwalts nicht übersetzt. Wenn die gewohnten Zeugenvernehmungen durch den Staatsanwalt aussetzen und Richter, Staatsanwalt und Anwalt in Schnelle über den Verfahrensgang und Probleme beraten, setzt die Übersetzung ganz aus. Nur selektiv können die beiden Frauen den Prozeß verfolgen. Der Dolmetscher ist gänzlich überfordert. Häufig kommt es zum Disput zwischen Staatsanwalt und Dolmetscher, dem die Befragung der Zeugen zu schnell geht. Nach der Zeugenvernehmung ist die Reihe an der Befragung der Angeklagten. Der Richter klärt die beiden Frauen über ihre Rechte auf. Vor diesem Gericht haben sie Aussageverweigerungsrecht. Sie können ihre Verteidigung vorbehalten. Sagen sie aus, können die Aussagen vor dem Strafgericht gegen sie verwandt werden. Der Dolmetscher blickt erwartungsvoll den Richter an: „Können Sie das bitte erläutern, das ist Juristensprache. Ich verstehe das nicht.“ Ein minutenlanges Hin und Her in einer Sprache, der die Angeklagten nicht folgen können. Ute Loh versteht nichts. Tränen stehen ihr in den Augen. Irgendwie wird letztendlich die Passage über das Aussageverweigerungsrecht der Angeklagten doch noch übersetzt. Ali Dana, der Verteidiger, gibt zu Protokoll, daß seine Mandantinnen nicht aussagen werden.

Der Gerichtsspuk ist beendet. Richter Güzoglu verkündet die Entscheidung. Die Beweise sind ausreichend, um ein Verfahren vor dem Strafgericht einzuleiten. Die Angeklagten bleiben weiterhin in Haft. Der Prozeßtermin vor dem Strafgericht Famagusta wird auf den 2.Mai festgelegt.

„Hervorragende, völlig menschenleere Sandstrände mit hohen weißen Dünen harren an der Nordküste der Karpass-Halbinsel ihrer touristischen Entwicklung. Noch aber fehlen hier Hotels völlig, gibt es nur in einer kleinen Bucht östlich von Yialusa (Yeni Erenköy) schon eine Taverne“, ist im DuMont-Reiseführer zu lesen. Doch die Urlaubsidylle, eine sattgrüne Landschaft, durchzogen von Olivenhainen, hat eine blutige Vergangenheit. Das griechisch besiedelte Yialusa war Zentrum des Tabakanbaus. Mit der Besetzung des Nordteils der Insel durch türkische Truppen 1974 wurden die griechischen Einwohner aus Yialusa vertrieben. Die Einwohner des türkischen Dorfes Erenköy am entgegengesetzten, westlichen Zipfel der Insel wurden von den Griechen eingekesselt. Während die Griechen in den Süden flohen, kamen die türkischen Einwohner von Erenköy nach Yialusa. Die verlassenen Häuser der Griechen wurden per Los verteilt. Yeni (Neu) Erenköy ist heute der türkische Name des Ortes. Die Fischer von Erenköy waren des Tabakanbaus unkundig. Heute ist es aus mit dem Tabakanbau als Erwerbsquelle. Mehrere hundert Menschen leben in dem 2.000-Menschen-Dorf vom Fischfang. Der Rest fristet ein untätiges Dasein. Nur durch den Umstand, daß Erenköy sich zum Zentrum der umliegenden Dörfer entwickelte - Lyzeum, Post, Tankstellen sind hier - wird größerer Arbeitslosigkeit entgegengewirkt. Und die große Hoffnung geht um: Der Tourismus.

Ein alter Mann grüßt mich auf der Straße. Wir reden über das nächtliche Ereignis. Er sagt nichts Neues. Worte, die ich bereits unzählige Male hörte. Grauenhaftes Denken, vorgetragen in selbstverständlicher Manier: „Er ist ein Mann, er kann es tun.“ Doch die Publicity habe geschadet. „Es ist schlecht für das Dorf. Es ist schlecht für den Tourismus.“ Selbst diejenigen, die sagen, „der Typ hat es verdient“, vergessen nicht, auf die „Provokation“ durch die Touristinnen hinzuweisen. Eine Touristin mit einem Mann ist eine ehrenhafte Frau. Frauen, die alleine reisen, sind Prostituierte, angewiesen auf männliche Befriedigung.

In diesem Denken - in den Köpfen der Zyprioten gang und gäbe - steckt nicht Frauenverachtung, sondern eine reale Gefahr für alleinreisende Frauen. Naivität und Ignoranz der gesellschaftlichen Realitäten der Männergesellschaft werden teuer bezahlt. „Es sind gerade die gebildeten unter alleinreisenden Frauen, die ohne Vorsicht mit einem grenzenlosen Vertrauen wild zelten“, hatte eine Deutsche, die seit Jahren im Tourismussektor in Zypern arbeitet, anvertraut. „Gerade fortschrittliche Frauen, die sich gegen Ausländerfeindlichkeit in der BRD wenden, tun hier so, als müsse der Türke per se gut sein - gastfreundlich, lieb, zuvorkommend.“

Özkan, der ältere Bruder des toten Özmen Tulga, ist Fischer. Er ist Hausherr, Alleinernährer der großen Familie. Als er 13 Jahre alt war, hat der Vater Mutter und Kinder verlassen und ist nach England abgehauen. Mit 13 ließ Özkan gerichtlich sein Alter im Personalausweis auf 16 Jahre heraufsetzen, damit er zum Militär konnte, um Geld für Mutter und Geschwister zu verdienen. Er hat sich durchgekämpft. Heute ist er verheiratet, hat drei Kinder. Er ernährt Mutter, 17jährige Zwillinge, die das Lyzeum besuchen, sowie seine geschiedene 23jährige Schwester Gülisar mit ihren Kindern. Für Bruder Özmen, der wenige Tage vor seinem Tod vom Militär entlassen wurde, hat er gespart und ein Fischerboot gekauft.

Die beiden Zwillinge, Mädchen in Jeansrock und T-Shirts, setzen sich zu uns ins Wohnzimmer. Das Gespräch kommt auf die Tage nach dem Vorfall. Auch nach den nunmehr gerichtskundigen Schreckensereignissen will die Gewalt kein Ende nehmen. „Dutzende Zeitungsleute kamen hier ins Dorf“, berichtet eines der Mädchen. „Drei Deutsche mit Fotoapparaten standen drei Tage danach vor der Tür. Sie brachen die Tür auf und drangen gewaltsam in das Haus ein. Mit Hilfe der Nachbarn haben wir sie dann vertrieben.“ Stumm verfolgt die Mutter das Gespräch. Ich stelle ihr keine Fragen. Nur einmal sagt sie von sich aus etwas. „Sie werden freigesprochen, denn es sind Touristinnen.“

Trostlose Perspektive

Kaum jemand im Dorf stellt in Frage, daß Özmen vergewaltigte. „Er war voller Komplexe, vaterlos aufgewachsen, kam gerade vom Militär zurück. Ganz klar, daß er es mit den Frauen treiben wollte“, erzählt der Jugendliche, der mich zu dem Ort führt, wo die Frauen zelteten. Es ist die vom Reiseführer beschriebene Idylle. Tausende Meter wunderschöner, menschenleerer Sandstrand. Unter einem Feigenbaum, rund 100 Meter von der Küste entfernt, kampierten die Berlinerinnen. „Ich verstehe nur eines nicht“, sagt der Jugendliche, „Özmen war ein Kraftprotz. Mit einer Zeltstange in der Hand hätte der nicht mit zwei, sondern gar mit 20 Frauen fertig werden können.“ Daß Wut und Haß von Frauen nach einer Vergewaltigung in materielle Gewalt umschlagen kann, will ihm nicht einleuchten.

Eine Minderheit unter den Jugendlichen des Dorfes hat Arbeit in den touristischen Hotels im naheliegenden Famagusta gefunden. Jobs als Kellner und Reiseführer. Die Reiseführer werden beneidet. „Die schlafen jeden Tag mit einer anderen. Zumindest erzählen sie es, wenn sie für wenige Tage im Dorf sind.“

Wir gehen in das einzige Jugendcafe des Dorfes - dorthin, wo der tote Özmen seine Stunden zu verbringen pflegte. Die Türen des Cafes sind sperrangelweit offen. Teenager mit gelangweilten Gesichtszügen. Eine Bar, ein Flipper, ein Kicker, ein Billardtisch und ein Computer-Kriegsspiel. Ausgeschenkt wird Tee, Kaffee und Cola. Die weißgekalkten Wände sind von oben bis unten mit Postern nackter Frauen behangen - nicht Dutzende pornographischer Bilder; es sind Hunderte vermeintlich einladender, verlockender Frauenblicke.

Untätig hocken sie zuhauf. Gegen Abend wird der Laden dicht machen. Die vom Reiseführer beschriebene Touristenidylle ist für sie die Hölle. Doch auch der Einstieg in den Kreislauf der Gewalt ist nur selbstzerstörerisch, in der Realität wie im Spiel. Ein langhaariger 17jähriger Junge hockt hinter einem „Ikari Warriors“. Nach Einwerfen der Münze sieht man am Bildschirm ein Flugzeug in feindlichem Gebiet landen. Ein Mann, Rambo ähnlich, entsteigt mit Maschinengewehr dem Flugzeug. Der Spieler muß Rambo vorwärtsbewegen und gleichzeitig mit Maschinengewehr auf die blauen Soldaten schießen, die mit Handgranaten erwidern. Hunderte Blauhelme tötet Rambo. Auf halbem Weg kann er einen Panzer besteigen. Danach geht das Killen schneller. Per Geschoß kann man die Blauen erledigen. Doch der Panzer wird abgeschossen. Nur mit Gewehr kann Rambo gegen die blauen Soldaten kämpfen. Der Spieler ist unachtsam. Eine feindliche Granate schlägt auf Rambo ein. Rambo geht in Flammen auf.