Die Katastrophe im Griff

■ Abschied am Theater: Mit einer Matinee verabschiedeten sich der Schauspiel-Leiter Günter Krämer und die Regisseure Torsten Fischer und Werner Schroeter

Ein Regisseur, eine Assistentin, ein Schauspieler? Ein Chef, eine Sekretärin, ein Arbeiter? Ein Richter, ein Henker, ein Delinquent? Ein Tyrann, seine Vasallen, ein Volk?

Der Raum ist spärlich beleuchtet, Gesichter sind kaum wahrnehmbar. Gesprochen wird wenig, die Befehle sind knapp, eindeutig. Notiert - ausgeführt! Zaghafte Widersprüche werden im Keim erstickt, höhnisch lachend kommentiert.

Ein Opfer wird hergerichtet. Stück für Stück, widerlich langsam, genießerisch. Die Arbeit der Assistentin wird qualvoll. Nein, die Stöckelschuhe darf sie nicht ausziehen. Sie schleppt sich von Befehlsempfang zum Tatort, stolpert, humpelt, strauchelt, bricht zusammen. Aber immer weiter Opfer zu Opfer. Es steht auf einem Sockel, „damit man die Füße

besser sehen kann.“ Es läßt sich biegen, beugen, verdrehen. Ohne Klage, stumm dem Schicksal ergeben. Das Publikum aus den Lautsprecherboxen rast vor Begeisterung, skandiert Bravos. Das Publikum im Saal klatscht warmen, herzlichen Beifall. Die Bühne bleibt dunkel, keine Verbeugung. Samuel Beckett, „Katastrophe“, geschrieben 1982 für den inhaftierten tschechischen Schriftsteller Vaclav Havel. Inszenierung: Günter Krämer.

240 Sekunden. Vorhang 20 Sekunden. Vorhang 20 Sekunden. 5 Sekunden, um auf der Bühne im Haufen liegende menschliche Körper, von Kerzen umkreist, zu erkennen; 10 Sekunden für einen Schrei. Die Beleuchtung hellt auf, das Geräusch des Einatmens folgt. 5 Sekunden Stille. 10 Sekunden bei abnehmender Beleuchtung, tiefes Ausatmen. Ein

Schrei folgt. 5 Sekunden Stille. Vorhang. Noch einmal. Die Körper liegen einzeln im Rund. Schrei, einatmen, Stille, ausatmen, Schrei. Stille. Dunkel.

Das Wimmern eines Kindes während der Geburt. Der Sauerstoff ermöglicht und erzwingt den ersten Schrei, das Leben ist reduziert auf einen tiefen Seufzer über einem Haufen Unrat vor der nächsten Geburt. Samuel Beckett, „Atem“. Inszenierung: Werner Schröter.

Zwei ruhige, anscheinend unspektakuläre Stücke. Zwischentöne müssen genauer erhört, ersehen werden. Sie passen zur Stimmung an diesem Sonntagmorgen, sie passen zum Abschied von Günter Krämer, Torsten Fischer, Werner Schroeter.

Die Theatergemeinde ist fast unter sich. Man gibt sich vertraut. Vielen steht noch das bis in den frühen Morgen dauernde Premierenfest des Vorabends im Gesicht, Augenränder sprechen Bände. Die Stimmung ist verkatert, aber herzlich. Nach dem letzten Vorhang wird im Foyer noch ein wenig geplaudert, verhalten am Sekt genippt und - ausnahmsweise geraucht.

„Tja, dann viel Erfolg in Darmstadt und Köln.“ - „Ja, danke.“ - „Ich meld mich mal bei dir, wenn ich in Wien bin.“ „Schön. Ich würd mich freuen.“ „Bis dann mal.“ - „Tschüß.“

Jörg Oberheide