Tiefflugexport - Nein Danke!

■ Im „Tiefflugparadies“ Labrador besetzten im Herbst die indianischen Ureinwohner eine Nato-Rollbahn

Wo bundesdeutschen Tiefflugstrategen die Luft im eigenen Land zu heiß wird, winkt eine Verlagerung ins Ausland als rettender Ausweg. Doch auch in den scheinbar menschenleeren „Tiefflugparadiesen“ regt sich Widerstand. In Labrador wehren sich die Ureinwohner gegen den Tiefstflugexport. Ihr Protest ist umso dringlicher, als entweder in ihrem Land oder in der Türkei ein riesiges Nato-Flugzentrum geplant ist. 38 indianische Tieffluggegner standen vor Gericht. Für gestern nacht wurde das Urteil erwartet.

Kein AKW weit und breit, das dem Tiefflieger „aus Versehen“ zu nahe kommt. Keine Remscheider Innenstadt, in die eine Phantom sausen könnte, keine lästigen Bürgerinitiativen, die prozessieren oder Heißluftballons aufsteigen lassen - keine Frage: Der weite Norden Kanadas läßt Tiefflugstrategen ins Träumen geraten. „Hier“, so schwärmte der Kommandeur der bundesdeutschen Luftwaffe Gerhard Judex schon vor Jahren in einem Interview, „gibt es keine künstlichen Hindernisse, keine Hochspannungsleitungen, keine Brücken, keine Türme gar nichts! Es ist absolute Wildnis, eine wunderschöne Wildnis allerdings.“ In dieser „wunderschönen Wildnis“ Labradors, so beteuert der Sprecher des Bundesverteidigungsministeriums auch heute noch, dort, wo seit nunmehr neun Jahren bundesdeutsche Piloten den Tiefstflug trainieren, „wohnt definitiv kein Mensch“.

Irgendetwas jedoch kann an dieser Darstellung nicht stimmen. Wie sonst ist zu erklären, daß in dieser angeblich so menschenleeren Gegend seit Anfang dieses Monats 38 Männer und Frauen vor Gericht stehen? Und warum sonst müssen sich Menschen in Labrador für eine Protestaktion verantworten, die vordringlich auch an die Adresse der Bonner Hardthöhe gerichtet war?

Die Antwort auf diese Fragen ist im September letzten Jahres zu finden. Da hatten knapp 200 Männer, Frauen und Kinder ihre Zelte genommem und in der Nähe des Nato -Stütztpunkts „Goose bay“ einen Bombenabwurfplatz und ein Rollfeld der Nato besetzt und die Militärs so zum Abbruch ihrer Manöver gezwungen. Rund einhundert Personen wurden vorübergehend festgenommen, 21 von ihnen, darunter auch ihr Priester, wanderten für einige Zeit ins Gefängnis, und 38 stehen nun wegen illegalen Betretens von Militärgelände vor Gericht. Für gestern nacht wurde das urteil gegen sie erwartet.

Die BesetzerInnen gehörten zur Gruppe der insgesamt 10.000 Innu - wie sich die Nachfahren der indianischen Ureinwohnern Labradors in ihrer eigenen Sprache nennen. Mit ihrer Protesaktion wollten sie sich dagegen wehren, daß in ihrem Land verstärkt das stattfindet, was den europäischen Militärstrategen politisch und technisch längst zu heiß wird: der militärische Tiefflug. Und die Besetzung des Nato -Geländes sollte den Blick der kanadischen und westeuropäischen Öffentlichkeit auf den jahrelangen Kampf der Innu gegen die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen durch den zunehmenden Export von Tiefflügen lenken. Denn die von den Militärstrategen als so ungemein dünnbesiedelt geschätzte „Wildnis“ ist ihr Land, aus dem sie und die rund 2.000 dort noch lebenden Inuit (Eskimos) immer mehr vertrieben werden.

Schon seit Jahren versucht die kanadische Regierung die Innu und Inuit, die gemäß ihrer Traditition von der Jagd und vom Fischfang leben, in klar umgrenzte Siedlungen zu drängen. Jetzt findet jedoch noch eine zusätzliche Vertreibung statt, an der sich vor allem die Bundesrepublik beteiligt: die Vertreibung aus der Luft. Seit neun Jahren ist das Land der Innu und Inuit rund um die „Goose bay“ bevorzugter Tummelplatz für die deutsche Luftwaffe. Zusammen mit ihren Nato-Kollegen aus den USA, Großbritannien und den Niederlanden trainieren die deutschen Militärpiloten hier den Tiefstflug in ca. 30 Meter Höhe, der ihnen zu Hause offiziell verboten ist. Jedes Jahr zwischen April und September dürfen die deutschen Flug-Akrobaten auf einem Übungsgelände von der zweieinhalbfachen Größe Hessens mit 900 Stundenkilometern in Baumwipfelhöhe durch die kanadischen Lüfte donnern. Erkauft hat sich die deutsche Luftwaffe diesen mörderischen Tummelplatz für runde 8 Millionen Dollar Jahrespacht vom Nato-Partner Kanada. In einem sogenannten „Memorandum of understanding“ haben sich die kanadische Regierung und die Bundesrepublik 1980 darauf verständigt, daß die Luftwaffe über dem Land der Innu jährlich 4.700 Tiefstflugstunden fliegen darf. Bis 1991 kann dieses Kontingent auf 6.000 Flugstunden erweitert werden, und angesichts der zunehmenden Proteste gegen Tiefflüge in der Bundesrepublik wird man von dieser zusätzlichen Verlagerungsmöglichkeit „mit Sicherheit Gebrauch machen“, erklärt das Verteidigungsministerium in Bonn.

Doch was den Herren auf der Hardthöhe im eigenen Land politische Entlastung verspricht, zerstört im fernen Labrador die Existenzgrundlage der Innu und Inuit. Beide Gruppen wohnen zwar nicht direkt im ständigen Tieffluggebiet rund um die „Goose bay“. Und tatsächlich können die Militärs ohne zu lügen behaupten, daß in den beiden Tiefstflugzonen keine menschlichen Ansiedlungen zu finden sind. Doch dokumentieren diese Aussagen eher ein völliges Unverständnis für eine fremde Lebensweise. Denn über die Hälfte ihres Lebens verbringen Innu und Inuit mit ihren Familien als Jäger, Fallensteller und Sammler genau in diesem Areal. Ihre Kinder, so berichten Vertreter der Innu, trauten sich nicht mehr aus den Zelten, wenn die Tornados und Phantomjäger mit ohrenbetäubendem Krach über ihre Köpfe donnern. In panischer Angst seien sie teilweise aus den kleinen Booten ins Wasser gespruchen. Auch die Tierwelt wird gepeinigt. Seltene Wasservögel verlassen aufgeschreckt ihre Nester, und die Tiere flüchten in andere Regionen. Mit großer Sorge beobachten die Innu vor allem die Auswirkungen der Tiefstflüge auf ihre Hauptfleischlieferanten, die Karibous, eine seltene Rentierart. In der Nähe des Nato-Stütztpunkts Goose bay ist eine der größten Karibouherden Nordamerikas zuhause. Jedes Frühjahr wandert sie nach Süden und durchquert dabei just zu dem Zeitpunkt die beiden bundesdeutschen Tiefstflugzonen, an dem die Piloten ihr Training aufnehmen.

Daß der Höllenlärm der Militärmaschinen die Tiere aufschrecken könnte, weist man im Bonner Verteidigungsministerium schärfstens zurück: „Bevor unsere Piloten zum Tiefflug starten, kundschaftet eine Maschine vorab die Gegend“, versichert der Sprecher der Hardthöhe, „und wenn sich dabei Karibouherden in dem Gebiet gesichtet werden, wird der übungsflug gesperrt.“

Experten jedoch bezweifeln diese Version. Da Karibous sich mit ihrem Sommerfell der bewaldeten Taiga anpassen, seien sie vom Flugzeug aus gar nicht zu orten. Überdies ließe es sich überhaupt nicht vermeiden, daß die Tiere in die Tiefstflugzonen eindringen. Mehrere kanadische Wissenschaftler, so berichtet die „Gesellschaft für bedrohte Völker“, haben bei den Rentieren in den letzten Jahren ungewöhnliche Verhaltensweisen entdeckt, die sie auf die Tiefflüge zurückführen.

Über Jahre hinweg hat die kanadische Regierung die Gelder für eine Studie verweigert, die ökologische, medizinische und soziale Auswirkungen der Tiefstflüge erforschen soll. Nun soll in den nächsten Wochen ein erstes solches Gutachten vorgelegt werden, doch das hat einen Hintersinn, der die Innu eher mißtrauisch macht. Unter anderem von dieser Studie nämlich will die kanadische Regierung abhängig machen, ob der Militärstützpunkt an der „Goose bay“ zum größten Nato -Trainingszentrum für taktische Flüge - und darunter sind vor allem Tiefstflüge zu verstehen - ausgebaut wird. Ohne jegliche Rücksprache mit Vertretern der Innu und Inuit hat die kanadische Regierung die „Goose Bay“ als Standort für dieses milliardenteure Trainingszentrum angeboten und ist damit von sich aus in Konkurrenz getreten mit dem ursprünglich geplanten Standort Türkei (s. Artikel auf dieser Seite). Im Dezember nun wollen die Nato-Oberen entscheiden, ob die Bevölkerung Labradors oder Anatoliens dann vor den donnernden Militärmaschinen flüchten muß.

Die spektakuläre Rollfeldbesetzung der Innu im vergangenen Herbst richtete sich daher auch gegen diesen geplanten Superstützpunkt. Vor einem Monat wiederholten die Innu ihre Protestaktion, und mittlerweile ist es in Kanada gelungen, eine breite Öffentlichkeit auf die drohenden Gefahren aufmerksam zu machen. Zahlreiche Friedensinitiativen und kirchliche Gruppen unterstützen die Innu in ihrem Widerstand gegen den Tiefflugexport. In den Heimatländern der Tornados und Phantoms, wo die Tiefflugdiskussion mit dazu beigetragen hat, daß man die Luftakrobaten nun zunehmend außer Hör- und Absturzweite schafft, ist der Protest bisher eher zaghaft. Als Anfang April, zu Beginn des Strafverfahrens gegen die Innu bundesdeutsche Tieffluggegner zu einer Mahnwache vor der kanadischen Botschaft in Bonn aufgerufen hatten, kamen gerade mal ein Dutzend Leute.

Vera Gaserow