Die schwere Geburt der schottischen Nation

■ Im Land der Clans blüht der jahrhundertealte Nationalismus wieder auf / Proteste gegen eine neue Kopfsteuer und die Suche nach einer eigenen Verfassung und einem eigenen Parlament, einen Schottland gegen London und den Thatcherismus

Rolf Paasch

„Nur auf der Landkarte ist Schottland eine Einheit. Zwei Sprachen, viele Dialekte, unzählige Formen der Frömmigkeit, zahllose Lokalpatriotismen und Vorurteile lassen uns weiter voneinander getrennt sein als den fernen Osten vom fernen Westen des großen Kontinents von Amerika.“ (Robert Louis Stevenson).

„Die wirkliche Frage für uns Schotten ist nicht, ob ein unabhängiges Schottland lebensfähig wäre, sondern ob es zu ertragen wäre.„(Arthur Marwick).

Wir schreiben den 30.März 1989 - und vielleicht sogar Geschichte. In der schmucklosen Versammlungshalle der Church of Scotland in Edinburgh haben sich ein paar Hundert Politiker, Gewerkschafter und Vertreter anderer gesellschaftlicher Organisationen versammelt, um ihrer schottischen Nation auf dem jahrhundertelangen Weg in die Welt der unabhängigen Staaten Geburtshilfe zu leisten. Zum ersten Mal trifft sich hier die „Constitutional Convention“, eine selbsternannte verfassungsgebende Versammlung, die Schottlands Anrecht auf ein eigenes Parlament formulieren und in die Tat umsetzen soll. Was 1320, 1689 und 1842 so kläglich mißlang, soll nun endlich Wirklichkeit werden: Schottland soll nicht länger von London aus regiert werden, sondern sein eigener Souverän sein. „Wir repräsentieren Schottland“, ruft Canon Kenyon Wright, der Sekretär des schottischen Kirchenrats und frischgewählter Sekretär der „Convention“, selbstbewußt in den kargen Kirchensaal. „Von unseren großen Städten Glasgow, Edinburgh, Aberdeen und Dundee bis in die entferntesten Gemeinden des Hochlandes, von den alten Schlössern Schottlands, vom Grenzland bis zu den westlichen und nördlichen Inseln, haben sich die Vertreter des Volkes hier versammelt ... Wir sind repräsentativer für Schottland, als das Parlament in Westminster für das Vereinigte Königreich.“ Befreiung vom englischen Joch?

Die im rechten Kirchenflügel plazierten Stadt- und Landräte aus allen Teilen Schottlands, die Vertreter der Arbeiterklasse und der höheren Professionen, sie hören gebannt auf die Redner, wie diese die Befreiung vom Joch Englands in rosigen Farben schildern; da sind die Männer im fast rein maskulinen Abgeordneten-Block in der Saalmitte schon abgebrühter. Ob sie ihren schottischen Wahlkreis in London oder in Brüssel vertreten, sie sehen das mit der Unabhängigkeit schon differenzierter. Wie die Labour-Party, der sie fast alle angehören, wollen sie nur die „Devolution“, eine Teilautonomie. „Wir sind für eine radikale, weitreichende Reform“, so der Führer der schottischen Labour-Party, Donald Dewar, unmißverständlich, „aber im Rahmen des Vereinigten Königreichs.“ Was erklärt, warum die Bänke neben seinen Labour-Kollegen heute leergeblieben sind. Während die in London regierenden Konservativen Margaret Thatchers als Partei der Union, noch nie einen Gedanken an die Unabhängigkeit Schottlands verschwendet haben, ist die „Scottish National Party“ (SNP) der parteiübergreifenden Konvention in letzter Minute ferngeblieben, weil hier die totale Unabhängigkeit des 5 -Millionen-Volkes ihrer Ansicht nach schon von vornherein als Alternative ausgeschlossen wird. Ohne die Nationalisten, so werden die sich ob der öden verfassungsgebenden Zeremonie in den harten Bänken langweilenden Journalisten später nach London telegraphieren, brauche man sich in England keine Sorge, über das neuerwachte Unabhängigkeitsstreben der Schotten machen. Viel scheint sich ja hoch im britischen Norden wirklich nicht verändert zu haben. Die Schotten wollen wie seit Jahrhunderten schon ihre Unabhängigkeit, nur wissen sie weiterhin nicht wie - und wieviel.

Und doch hat sich hoch oben im britischen Norden seit den letzten Parlamentswahlen die nationale Stimmung mächtig ausgebreitet. Denn Frau Thatchers ruhmreicher Wahlerfolg im Juni 1987 beschränkte sich auf die englischen Wahlkreise. Im Land der Clans kamen die Tories dagegen nur auf ganze 24 Prozent. Mit zehn Abgeordneten in den 70 schottischen Wahlkreisen könnten die Konservative nicht einmal das stellen, was bisher die einzige Inkarnation schottischer Unabhängigkeit ausmacht: ein eigenes Fußballteam. Wenn in London ein Unterhausausschuß für schottische Angelegenheit zusammengestellt werden muß, herrscht an konservativen Abgeordneten gleich Mangelware. Kurzum, die demokratische Legitimation einer britischen Regierung war in Schottland noch nie so umstritten wie heute. Labour stellt zwar 50 Abgeordnete, doch zu sagen haben diese „feeble fifty“, die schlappen Fünfzig, in den Oppositionsbänken von Westminster bei einer konservativen Mehrheit von 100 Sitzen so gut wie nichts. „Wir wählen seit zehn Jahren beharrlich mit 6:1 für die Opposition, so formuliert es ein Mitglied der Konvention recht drastisch, und müssen trotzdem den ganzen konservativen Scheiß hier ausbaden.“ Steuerreform als Disziplinierungsmittel

Edinburgh, zwei Tage nach dem ersten Zusammentreten der „Constitutional Convention“, dem Appell für die Selbstregierung. Am 1.April marschieren 30.000 Schotten durch ihre parlamentslose Hauptstadt. „Wir können nicht zahlen, und wir wollen nicht zahlen“, ruft der Chef des schottischen Gewerkschaftsbundes Campbell Christie den Teilnehmern der Abschlußkundgebung zu. Gemeint ist die „Poll Tax“, die neue auf der Grundlage des Wahlregisters erhobene Kopfsteuer, welche die alte Grundsteuer seit heute ablöst. Verärgerte Lokalpolitiker verbrennen symbolisch ihre Steuerbescheide, ein Sprecher der Labour-Party beschwert sich über dieses neue Beispiel konservativ-Londoner Arroganz, der Chef der Nationalistenpartei ruft offen zum Boykott gegen die Poll Tax auf. Am gleichen Abend in der ausverkauften Usher Hall gibt es RAP, „Rock against the Poll Tax“: „The Soul is Crying Out“, singt dort Jim Kerr von den „Simple Minds“ als Schotte und erprobter Politrocker; und meint die schottische Seele, wie sie auf die erneute Attacke aus London reagiert.

Seit dem 1.April werden in Schottland die Kosten für soziale Dienstleistungen nicht mehr über die „Rates“, einer am Wohnungsbesitz des Haushaltsvorstandes bemessenen Grundsteuer, sondern der neuen Poll Tax finanziert. Damit werden in Schottland zusätzlich 1,8 Millionen sozial Schwache vom Staat zur Kasse gebeten. Denn leider ist es kein Aprilscherz, daß Richard Douglas Scott, als Schloßherr und Graf von Dalkeith ab dem 1. 4. 1989 genauso viel Poll Tax zahlen wird wie Robert Paul, der Arbeiter in einer Munitionsfabrik, der im gleichen Dorf von Wanlochhead in einem winzigen Reihenhäuschen wohnt. Verlieren werden durch die Poll Tax die Bewohner von Sozialwohnungen in den Innenstädten und die oft noch in semi-feudalem Abhängigkeitsverhältnis arbeitenden Kleinbauern im schottischen Hochland. Gewinnen werden die bourgeoisen Kleinfamilien in Edinburghs besseren Vierteln und die Landhausbesitzer draußen in den Lowlands oder Highlands.

Die von der Regierung Thatcher eingeführte Poll Tax bringt die gemeindesteuerliche Gleichbehandlung von Arbeitern und Aristokraten - und die politische Entmündigung all derer, die sich in den letzten Monaten vom Wahlregister haben streichen lassen, weil sie die neuen Steuersätze nicht mehr bezahlen wollen beziehungsweise können. Konservative Chefdenker haben die Steuerreform zur Disziplinierung ausgabefreudiger Kommunalverwaltungen ersonnen. Nach ihrem Test in Schottland soll die Poll Tax in den nächsten Jahren auch in England und Wales eingeführt werden. „Wir Schotten sind wieder einmal“, so formuliert es ein Redner bei der Poll Tax-Rallye in Edinburgh, „Englands Versuchskaninchen.“ Wahlsieg der Nationalisten

Trotz dieser heftigen Proteste ist es unwahrscheinlich, daß es den Schotten gelingen könnte, diese negativ umverteilende Steuerreform wieder rückgängig zu machen. Zwar hängen in den Wohnungsfenstern von Glasgow und Edinburgh seit Monaten die gelben Anti-Poll-Tax-Plakate, die politische Kampagne gegen die fiskalische Attacke aus England war jedoch von Anfang an - wie so oft in der schottischen Geschichte - von mangelndem Selbstbewußtsein und Streitigkeiten geprägt. Ebensowenig wie bei der Verfassungsversammlung konnten sich Labour- und National-Party hier bei der Poll Tax auf eine Strategie gegenüber dem gemeinsamen Feind in London einigen. Ihre traditionelle Paranoia vor jeglichen außerparlamentarischen Widerstandsformen hatte die schottische Labour Party bereits im vergangenen September von einem Steuerboykott Abstand nehmen lassen. Die SNP versucht dagegen aus dem Widerstand gegen die Steuerreform durch die anvisierte Aufstellung einer „Armee aus 100.000 Poll Tax-Rebellen“ nationalistisches Kapital zu schlagen. Die Kampagne der SNP, so ihr Chef Jim Sillars, sei einem Guerillakrieg zu vergleichen, der „die aufgestauten Frustrationen Schottlands über die nicht von uns gewählte Regierung endlich freisetzt“.

Jener Jim Sillars hatte mit seinem sensationellen Sieg bei den Nachwahlen in der Glasgower Labour-Hochburg von Govan im vergangenen November für den Beginn einer Renaissance des Schottischen Nationalismus gesorgt. Erfolgreich hatte es der Ex-Labour-Mann und neue Star der SNP verstanden, seine ehemalige Partei als unsichere schottische Gesellen hinzustellen, denen ihre Londoner Parlamentssitze in Westminster im Ernstfall näher seien als der Wunsch der Schotten nach größerer Autonomie. Im Siegestaumel von Govan, sahen sich Sillars und die Nationalisten, die im britischen Unterhaus nach ihrem Nachwahlsieg nun vier Sitze haben, schon auf dem Wege, die Labour-Party als führende Kraft in Schottland abzulösen.

Die Feindseligkeiten zwischen Labour und der SNP und die Zweifel an der Unabhängigkeits-Rhetorik der Labour-Party in der Bevölkerung gehen auf die Rolle der Partei bei dem letzten Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands im Jahre 1979 zurück. Damals - nach der letzten großen nationalistischen Welle im Schottland der 70er Jahre hatten 33 Prozent der Schotten für und 31 Prozent gegen ein schottisches Parlament gestimmt. Wäre da nicht die kurz zuvor von der Labour Party ans Referendum angehängte 40 Prozentklausel gewesen, dann hätten die Schotten längst ihre heute von 80 Prozent der Bevölkerung befürwortete „Scottish Assembly“. Statt dessen führte das Referendumsdebakel vor zehn Jahren zu einer Regierungskrise mit Neuwahlen - und zum Beginn der heute in Schottland so verhaßten Thatcher -Herrschaft. Kollektivistisches Erbe bewahrt

Nicht allein die konservative Poll Tax, auch die Privatisierung von Teilen des Gesundheitssystem und die Erziehungsreform - die eine Anglifizierung des schottischen Schulmodells bringen wird - stoßen zwischen Carlisle und den Orkney-Inseln auf größeren Widerstand als im Süden Großbritanniens. Während in England nach zehn Jahren laissez faire die Ellenbogengesellschaft längst alle gemeinschaftlichen Traditionen zerstört hat, haben sich die Schotten noch Reste ihres kollektivistischen Erbes bewahren können. Wo Regional- oder Industriepolitik im Süden längst auf dem Müllhaufen des Keynesianismus gelandet ist und Lokalverwaltungen völlig demoralisiert und entmachtet sind, wird in Schottland noch im Rahmen eines traditionellen Korporatismus von Lokalverwaltungen, Gewerkschaften und Arbeitgebern weiter geplant und kooperiert. Selbst die Akademiker, deren Studien über Kriminalität oder Industrieansiedlungspolitik in die regionale Politikformulierung miteinfließen, kommen in Schottland mehrheitlich aus der Tradition der Arbeiterbewegung und nicht wie in England von einer privaten Managementschule, auf der die reine Lehre des Adam Smith (ein Schotte übrigens) gepredigt wurde. Noch ist Schottland anders, noch haben die übelsten Auswirkungen des Thatcherismus den Hadrianswall nicht überschritten, noch ist Schottland nicht an die konservative Revolution verloren.

Noch ist auch unklar, inwieweit der wiederauflebende Nationalismus nur Ausdruck einer offenen Rebellion gegen die Thatcher-Regierung - und ein Denkzettel an die parlamentarisch hilflose Labour-Party ist - oder ob dahinter das diesmal wirklich ernstgemeinte Streben der Schotten nach ihrer Unabhängigkeit steckt. Angesichts der Unfähigkeit von Scottish Labour Party und Scottish National Party, im Widerstand gegen die ihnen aus London auferlegte Politik zu einer Allianz zu finden, stehen Schottlands Chancen auf dem Weg zur Selbstregierung entscheidend weiterzukommen nicht allzu gut. Es wäre nicht das erste Mal, daß die nationalistischen Wehen Schottlands, dessen kulturelle Identität unbestritten ist, aufgrund seiner politischen Unreife in einer tragischen Fehlgeburt enden.