Risikogesellschaft und Gegenpolitik

■ Ein Gespräch mit Ulrich Beck

Ulrich Beck lehrt Soziologie an der Universität Bamberg. Voll ins Zentrum des von Ängsten geplanten Zeitgeistes traf sein Buch „Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne“, das kurz nach Tschernobyl herausgekommen ist. Im letzten Jahr erschien ein neues Buch mit dem Titel „Gegengifte“, in dem sich Beck mit der Möglichkeit einer „Gegenpolitik“ auseinandersetzt, die in einer Welt greift, die zum Experimentierfeld riskanter Technologien und einer „organisierten Unverantwortlichkeit“ geworden ist.

taz: Ihr neues Buch mit dem ambivalent Hoffnung versprechenden Titel „Gegengifte“ ist wohl unter dem Eindruck von Tschernobyl entstanden, also gewissermaßen angesichts einer empirischen Bestätigung Ihrer Beschreibung der Risikogesellschaft. Wenn man dieses Buch liest, erhält man den Eindruck, daß der tragende Gedanke in der Verselbständigung der Technowissenschaft besteht, deren negativer Zukunftshorizont die Möglichkeit der Selbstvernichtung der Menschheit ist. Mit der Kritik an Technik und Wissenschaft entsteht die Forderung nach einem anderen Begriff von Rationalität. Wo würden Sie denn einen solchen ansetzen?

Ulrich Beck: Tatsächlich halte ich diese Risiko- und Gefahrenproblematik für eine neue und zentrale Herausforderung, sowohl was die wissenschaftliche Rationalität als auch was die gesellschaftliche Organisation betrifft. Das ist sicher nicht die einzige Frage der Zukunft. Aber mit dem Wegschmelzen der Ost-West-Gegensätze wird diese Frage noch eine größere Dringlichkeit für die außen- und innenpolitische Auseinandersetzung in der Bundesrepublik gewinnen. Die Kritik an der Wissenschaft ist sehr umfassend. Ich möchte hier nur zwei Punkte herausgreifen. Risiken beinhalten prinzipiell eine Unschärfe, das heißt sie entziehen sich aus mindestens zwei Gründen der wissenschaftlichen Entscheidbarkeit: Erstens steckt in ihnen die kulturelle Akzeptanz, also die Frage, wie wir leben bzw. was wir hinnehmen wollen, läßt sich aus Risikoeinschätzungen allein nicht beantworten; und zweitens sind die wissenschaftlichen Ergebnisse - das hat die Erfahrung der letzten Jahre immer wieder gelehrt - immer revidierbar und revidieren sich auch ständig. Was heute als ungefährlich erscheint, kann morgen als gefährlich erscheinen. Diese prinzipielle Unschärfe erfordert andere Umgangs-, Dialog- und Mitbestimmungsformen mit der Öffentlichkeit.

Gleichzeitig ist es aber so, daß die Techniker de facto ein Monopol in diesen Fragen haben, selbst gegenüber dem Rechtssystem und dem politischen System. Wenn man das genau ansieht, so ist das Kleingedruckte der gesetzlichen Verordnungen in allen Bereichen, in denen es um technische Gefahren geht, die Sache der Techniker und sogar noch die kleiner Gremien von Technikern oder einzelner, besonders herausragender Persönlichkeiten, die keiner Legitimation unterworfen sind. Ich halte das, weil es sich hier um Schlüsselfragen der Gesellschaft handelt, für einen ganz eklatanten Widerspruch.

Eine Ihrer Thesen geht in die Richtung, daß etwa ökologisch-politischer Widerstand gegenüber den technischen Folgelasten gar nicht wirklich in das System eingreifen kann, sondern daß der Hauptfeind der technischen Innovation die technische Rationalität selber sei, die sich ihr eigenes Grab schaufelt. In welcher Hinsicht bestehen denn wirklich Chancen, daß die Technowissenschaften sich selber ihres Absolutheitscharakters berauben? Ist der organisierte Widerstand gegen die Durchsetzung etwa von Projekten der Großtechnologie tatsächlich nur eine sinnlose Sache?

Nein, so sehe ich das überhaupt nicht. Die große Frage ist ja die, woher überhaupt die Hoffnung einer politischen Gegenaktivität angesichts dieser Übermacht eines industriellen Prozesses kommt, der mit Standardargumenten wie Weltmarktkonkurrenz, technischem Sachzwang, getroffenen Investitionsentscheidungen usw. auftrumpfen kann. Zunächst muß man erst einmal feststellen, daß die Vermißtenanzeigen nach irgendeinem revolutionären Subjekt offenbar auch in den Subkulturblättern noch keine Erfolge gezeigt haben, daß die Ethikkommissionen hinterherhinken und ebenso das Parlament sich aus dem Feuilleton informieren muß, um beispielsweise die humangenetischen Entwicklungen überhaupt erst zur Kenntnis zu nehmen. Das alles kann einen eher in den Fatalismus hineintreiben als zur politischen Gegenwehr. Ich möchte aber zwei Gesichtspunkte geltend machen, die bislang weder theoretisch noch politisch hinreichend durchdacht worden sind. Der aufgeblähte Superindustrialismus mit seinem technologischen Größenwahn steht erstens im Widerspruch zu der simplen Tatsache des Zweifels, der in der Moderne mehr und mehr umgesetzt wird. Die Kritik hat die Übermacht des Zweifels auf ihrer Seite. Die ökologische Demokratie: Das wäre in einer Hinsicht die Vorsicht, die aus dem Zweifel erwächst, der selbstbewußte Zweifel, der zur sozialen und politischen Struktur geworden ist. Wenn wir zurückfragen, woher die Empörung über die Großtechnologie kommt, haben wir es zweitens immer mit Informationen zu tun, die meistens aus dem Bereich der Großtechnik selbst kommen und eine große öffentliche Wirksamkeit erlangt haben. In ihren verheimlichten Fehlerquellen ist die Großtechnik eine unerschöpfliche Quelle ihrer eigenen Widerlegungen. Insofern haben wir an der Tagesschau sozusagen öffentliche Lehrstücke über Technikkritik durchgemacht. Das ist kein Automatismus, aber ein interessanter Aufklärungsmechanismus, den es soziologisch zu durchdenken und politisch aufzuschließen gilt.

Wissenschaft ist seit der Neuzeit eine Art Refugium, auf das man sich zurückziehen kann, sofern Dissens aufkommt. Dieser Anspruch auf Objektivität wird von Ihnen in Zweifel gezogen. Wissenschaft ist eine Produktionsinstanz, die durchaus direkt politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Interessen folgt, sie aber nicht transzendiert.

Ganz so sehe ich es nicht. Ich glaube, im Widerspruch zu den Zynismen, die beispielsweise in den Universitäten vorherrschen, immer noch irgendwo an die Objektivität der Wissenschaft. Es gibt Kernelemente der Rationalität, die aber heute nicht mehr eindeutig monopolisiert und verortet sind. Die Erfahrung hat sich beispielsweise weitgehend aus der Wissenschaft verabschiedet. Das ist ein Vorgang, dessen Reichweite noch gar nicht hinreichend bedacht worden ist. Es geht zwar um Empirie, um Daten, um Berechnungsmodelle oder Experimente, aber das alles ist objektivierbar in Form von Statistiken und nicht bezogen auf Erfahrung. Das wurde für mich im Umgang mit Tschernobyl exemplarisch deutlich. Tschernobyl ist von seiten der technischen Rationalität vollständig integrierbar, weil man, wie die Techniker sagen, mit einem derartigen Unfall einmal rechnen mußte. Die Wahrscheinlichkeit schließt das nicht aus. Auch die Reichweite war klar. Der kulturelle Schock bleibt für die Wissenschaft „irrational“. Deswegen habe ich den Eindruck, daß wir augenblicklich ein Auseinanderklaffen dessen, was die Erfahrungswissenschaft einmal zusammenbinden wollte, erleben. Die empirische Wissenschaft liefert dabei zwar wichtige Argumente, an denen wir gar nicht vorbei können. Aber ein Grundelement der Erkenntnis, nämlich soziale Erfahrung im Umgang mit technischen Folgen, wird inzwischen öffentlich organisiert. Teils irrational, aber auch mit interessanten, erst noch aufzuschließenden Perspektiven.

Nun wissen aber doch alle in den entwickelten Ländern, daß bestimmte Verhaltensweisen, Produktionsvorgänge oder Produkte, vom Treibgas über den Individualverkehr bis hin zur chemisch aufgerüsteten Landwirtschaft, zu ökologischen Krisen größeren Ausmaßes führen werden. Dieses Wissen, daß die gegenwärtige Lebensform, wenn sie so weiter geführt wird, katastrophale Folgen hat, geht aber doch nur marginal in die Praxis über. Gleichzeitig habe ich den Eindruck, daß die ökologische Welle wieder am Zurückgehen ist und sich eine Gleichgültigkeit breitmacht, weil man die täglich hereinströmenden Informationen über geschehene und mögliche Katastrophen einfach nicht mehr verarbeiten kann und die Richtung der Gesellschaftsentwicklung sich nicht fundamental, zudem nicht so schnell wie erforderlich zu ändern scheint.

Das kann man an sich selbst nachvollziehen. Dieses tägliche Wettrennen um das neueste Gift, um die neueste Untergangsmöglichkeit, führt dazu, daß man sich erst einmal zurückzieht und abwartet, was gewissermaßen als „Gift des Monats“ neu veröffentlicht wird. Doch für die immer noch diffuse politische Gegenstrategie ist zentral: Anders als in den Konflikten des klassischen Kapitalismus ist das Thema nicht mehr an den Eigentumsverhältnissen festzumachen, sondern an dem, was ich die Definitionsverhältnisse nenne. Dabei ist die Zurechnungsfrage zentral. Solange Kausalitäts und Verursacherprinzip in weltweiten Umweltvergiftungen nicht anders gelöst werden, laufen die bisherigen Institutionen der Vermeidung und der Kontrolle leer. Das müßte so organisiert werden, daß nicht die armen Konsumenten mit ihrem Speisezettel das vom Tisch räumen müssen, was aus allen Rohren auf den Tisch platzt, sondern daß die Millionen von emsigen Beamten und Wissenschaftlern, die überall mit dem Thema sowieso befaßt sind, so operieren müssen oder können, daß die Kontrollen und Disziplinierungen greifen. Das Zurechnungsproblem kann man jetzt schon versuchen politisch einzuklagen, oder man kann es durch institutionelle Regelungen ändern, etwa über die Ersetzung des direkten individuellen Verursacherprinzips durch den Korrelationsnachweis als Grundlage für die Rechtsprechung. Dann entscheiden die Gerichte anders, dann muß die Verwaltung anders arbeiten, und die Kontrollen sind anders organisiert. Die Industrie muß die Risiken anders antizipieren und in ihre Produktion umsetzen.

Der Begriff der Risikogesellschaft bringt, anders als der der Moderne oder der Industriegesellschaft, die Vorstellung mit sich, daß Veränderungen unter Rechtfertigungszwang stehen, während Bestehendes im Grunde erhalten werden soll. Bewahren, Schützen, Retten der Natur, des menschlichen Körpers, von Lebens- und Kommunikaktionsformen stehen im Vordergrund. Darin steckt also eine konservative Haltung. Gleichzeitig mit den uns deutlich werdenden Risiken der technischen Entwicklung entstehen aber auch neue Technologien, die, wie die Gentechnologie, dazu imstande wäre, etwa Viren zu erzeugen, die gezielt bestimmte Gifte abbauen, Lebewesen zu erzeugen, die gegenüber Gefährdungen resistent sind. Menschentypen zu entwickeln, die widerstandsfähiger sind, überhaupt eine künstliche Umwelt zu konstruieren, die die natürliche ablösen könnte. Diese technische Alternative wird von Ihnen lediglich kritisiert. Gefährdungen werden nur gegenüber der natürlichen Lebensgrundlage thematisiert, die ja selber schon eine kulturell erzeugte ist. Warum diese konservative Verkürzung?

Ich glaube einfach nicht an die Möglichkeit, diese Fragen technisch zu lösen. Im Umgang mit der Humangenetik wird das ganz offensichtlich. Damit kommen ethische und politische Fragen auf uns zu, von denen man noch nicht absehen kann, wie die Gesellschaft sie verkraften wird. Im Augenblick können sie dies anscheinend nur so, daß diese Entwicklung weitgehend schweigend hingenommen wird, denn das, was hier an technischen Möglichkeiten erarbeitet wird, kommt vom Ergebnis her, nicht von der Intention, den eugenischen Bewegungen zu Beginn dieses Jahrhunderts und damit auch dem Naziwahnsinn nahe. Man darf nicht verkennen, daß hier klinisch neutral in Form einer Reagenzglaspraxis das möglich wird, was früher nur durch große politische Vergewaltigung ganzer Menschengruppen und Völker möglich war, nämlich die Selektion, die Anwendung der Fortschrittsidee auf die menschliche Natur.

Natur wird von Ihnen gleichwohl als gesellschaftliches Verhältnis, also als relativ zu einem kulturellen Stand begriffen. Heute müssen wir sowieso bereits von einer „Kunstnatur“ ausgehen, weswegen Sie auch das „naturalistische Selbstmißverständnis“ der Ökologiebewegung kritisieren. Wo liegt für Sie der qualitative Sprung zwischen der bereits bestehenden Kunstnatur, die ja auch Prozessen der Selektion und der Vernichtung unterworfen wurde, und den gentechnischen Möglichkeiten, die Biosphäre zu manipulieren bzw.andere Lebewesen zu erfinden?

Die ökologische Bewegung ist bislang noch zu stark in dem naturalistischen Selbstmißverständnis befangen, weil meist davon ausgegangen wird, daß durch die Zerstörung selbst die Protestbewegung hervorgerufen worden ist. Realistischerweise muß man aber sagen, daß Zerstörung und Protest unabhängig voneinander variieren und zwar unterbrochen durch die Bereitschaft, Zerstörung auch hinzunehmen, was man an vielen Beispielen der Geschichte nachweisen kann. Die Frage nach dem Protest ist eine ganz eigenständige nach den kulturellen Symbolen, in denen die Zerstörung politisch organisiert ist und wahrgenommen werden kann. Was den Unterschied betrifft, so meine ich schon, daß man eine deutliche Differenz etwa zwischen der Bierbrauerei oder der Käseherstellung, die seit Jahrhunderten bereits eine natürliche Genmanipulation betreiben, und dem Eingriff durch Humangenetik und Fortpflanzungstechnologie ziehen kann. Es wird damit möglich, technisch Subjektivität zu gestalten. Das war bisher nicht möglich. Biologie wird dadurch zu einer Biopolitik. Gesellschaftliche Probleme können gentechnisch transformiert und möglicherweise auch „gelöst“ werden. Das ist eine ganz neue Dimension, die uns die Biologen eingebrockt haben, auch wenn es auf den leisen Sohlen des Normalen vorausschreitet.

Das Gespräch führte Florian Rötzer