Gebären um jeden Preis

Sieben Stunden lang plädierten die Staatsanwälte im Prozeß gegen den Memminger Frauenarzt Horst Theissen Gnadenlos listeten sie nochmals alle „Fälle“ auf / Bei keiner Frau wurde Notlage anerkannt  ■  Von Luitgard Koch

Bis in die frühen Abendstunden plädierte die Staatsanwaltschaft am vergangenen Freitag im Prozeß gegen den Memminger Frauenarzt Dr.Horst Theissen. Über sieben Stunden lang genossen die beiden jungen Staatsanwälte Herbert Krause und Johann Kreuzpointner ihren Auftritt als Kläger gegen die Frauen und Rächer des „Nascituros“. Gnadenlos zerrten sie in ihren Plädoyers nochmals jedes Frauenschicksal an den Pranger und listeten akribisch die zu verhandelnden 79 Fälle auf. 77 Fälle hatten sie großzügig nach der Beweisaufnahme eingestellt. Aber nur mit der erpresserischen Bedingung, daß die Strafe für den 50jährigen Frauenarzt auch angemessen hart ausfällt. Am Ende forderten sie drei Jahre und sechs Monate als „mindest vertretbare Strafe für die Vernichtung werdenden Lebens“ sowie ein dreijähriges Berufsverbot.

Der 35jährige Staatsanwalt Herbert Krause, er lebt noch bei seiner Mutter, erhebt sich. Mit strafenden Blicken bedenkt er den Arzt auf der Anklagebank. Dieser wendet sich ab. Dann ergreift Johann Kreuzpointner das Wort. Abwechselnd tragen die beiden ihren „Hexenhammer“ vor.

Fall drei, eine 34jährige Türkin, kein eigenes Einkommen, verheiratet mit einem 35jährigen Sozialarbeiter, Einkommen 1.700 Mark. Das Ehepaar besitzt eine Eigentumswohnung in Izmir, die sie mit 400 Mark monatlich abbezahlen müssen. Als die Frau schwanger wird, hatte sie gerade eine Stelle als Verkäuferin in Aussicht. In „orientalisch wortreicher Art“ habe der Ehemann vor Gericht ausgesagt, so Kreuzpointner. „Zu Hause versumpft sie“, habe er die psychischen Probleme, die die Frau in der häuslichen Isolation habe, umschrieben. „Die psychischen Probleme waren lediglich eine Reaktion auf die Umwelt. Ein Krankheitsbefund war somit nicht feststellbar“, weiß Kreuzpointner. Die Frau hätte ja auch eine Halbtagsstelle als Verkäuferin annehmen können. Völlig irrelevant ist für den schneidigen Staatsanwalt, der „vermeintlichen Selbstverwirklichung der Patientin Raum zu geben“. Freiheitsstrafe: sieben Monate. Noch unerbittlicher argumentiert er im nächsten Fall. Sechs Kinder hat die verheiratete türkische Arbeiterin bereits geboren. Sie hatte Angst, ihre Stelle wegen der Schwangerschaft zu verlieren. Kreuzpointner rechnet: Für 30.000 Mark habe sich die Familie eine Eigentumswohnung in der Türkei gekauft, „zum stolzen Preis von 17.000 Mark“, und sogar noch einen PKW. Zwar seien bei der „Zeugin sechs Kinder vorhanden“. Diese wären jedoch zum „Tatzeitpunkt“ bereits „aus dem Gröbsten raus“. Ihr arbeitsloser Sohn könnte daher ohne weiteres das Neugeborene betreuen. Strafe: drei Monate.

Eine Notlage kann der Staatanwalt auch bei der jungen ungelernten Kellnerin nicht erkennen. Vom Vater des Kindes, einer flüchtigen Bekanntschaft, sei nichts zu erwarten, erzählte die junge Frau vor Gericht. Ihr Argument, sie fühle sich zu jung für ein Kind, zählt in den Augen des Staatsanwalts nicht. Ebensowenig die finanziellen Verhältnisse. „Die wirtschaftlichen Verhältnisse mögen beengt gewesen sein“, räumt Kreuzpointner zwar ein. Jedoch: Sie hätte ja Sozialhilfe beantragen und das Kind in Pflege geben können. Außerdem hätte die Frau noch zwei arbeitslose Schwestern zu Hause, die sich um das Kind kümmern könnten. „Wie wenig bedrängend die Situation war, zeigt, daß sie nach einem Jahr ein Kind geboren hat und es mit Sozialhilfe aufzieht“. Strafe für diesen Fall: fünf Monate.

Die Frauen im Memminger Gerichtssaal können bei soviel Ignoranz nicht mehr ruhig bleiben. „Das ist ja nur noch peinlich“, ruft eine von ihnen empört dazwischen, andere stehen auf und verlassen mit lautem Türenknallen den Saal. Richter Barner droht mit Ordnungsstrafe. Die Litanei wird fortgesetzt. Keine Notlage kann die Staatsanwaltschaft auch im Fall der damals 18jährigen italienischen Näherin erkennen. Sie wurde von einem jungen Griechen schwanger. Sie hatte Angst vor ihrem Vater, einem patriarchalischen Sizilianer. Ihr arbeitsloser Freund drohte ihr mit Schlägen. Strafe: sechs Monate. Genausoviel fordert der Staatsanwalt für den Abbruch bei einer türkischen Witwe. Ihr Mann hatte kurz davor Selbstmord begangen. Sie fürchtete die Schande als unverheiratete Mutter. „Türken sind es gewohnt, sparsam zu leben“, weiß Kreuzpointner im „Fall 40“. Da die Familie Ersparnisse von 27.000 Mark hatte, wäre seiner Meinung nach ein drittes Kind „keine Schwierigkeit gewesen“. Außerdem „stand der Ehemann durch seine Arbeitslosigkeit zur Kinderpflege zur Verfügung“. Strafe: acht Monate.

Auch zur Beurteilung von medizinischen Indikationen fühlen sich die Staatsanwälte berufen. Weder das Risiko eines zweiten Kaiserschnitts noch ein vorhandenes Myom oder eine Zyste ist nach Meinung eines von ihnen zitierten Gutachters ein Grund abzutreiben.

Als „krassesten Fall“ schildert Kreuzpointner die Situation einer „biederen, bescheidenen Hausfrau aus Niederbayern“. In der Ehe kriselte es. Zwei Kinder waren bereits vorhanden. Der Mann wollte kein drittes mehr. Er habe sich die Adresse von Theissen besorgt, behauptet der Staatsanwalt. „Betrachtet man sich diesen Fall, entsteht der Eindruck, daß der Angeklagte sich die Zeuginnen wie Schlachtvieh zutreiben ließ“. Strafe: ein Jahr. Keinerlei Verständnis zeigen die Staatsanwälte auch für eine Frau, deren Kind wenig davor am plötzlichen Kindstod starb. „Es gibt Apparate, mit denen sich der plötzliche Kindstod vermeiden läßt“, so ihr Argument. Strafe: sechs Monate. Auch die „panische Angst“ einer Schwangeren vor einem mißgebildeten Kind nach der Einnahme von Medikamenten zählt nicht. „Eine fruchtschädliche Wirkung bei diesen Tabletten ist nicht nachweisbar“, heißt es. Die Angst der Zeugin war „lediglich vorgetäuscht“. Strafe: neun Monate. „Das ist das Pikante an der Situation“, stellt der 35jährige Krause im „Fall 36“ fest. Grund: Die 44jährige wurde „außerehelich schwanger“, ihr Mann war sterilisiert. Ein „Seitensprung als solcher kann keine Rechtfertigung für einen Abbruch sein“, betont er. Strafe: vier Monate. Die beiden Staatsanwälte haben eine Reihe solcher „Seitensprungfälle“, wie sie sich ausdrücken, ausgeschnüffelt.

„Rein rechnerisch“ kommen die beiden Staatsanwälte kurz vor halb sieben abends dann auf ein Strafmaß von 53 Jahren und zehn Monaten. „Das ist eine illusorische Zahl“, stellen sie bedauernd fest. Ein „Divisor von 15“ sei deshalb notwendig. Starr hört Frauenarzt Theissen diesen Rechenexempel der rigiden Männerjustiz zu. Seine Frau sitzt draußen auf dem Gang in Tränen aufgelöst. „Bei euch kriang ja nur dia Richter a Notlagen“, empörte sich ein älterer Mann bereits während der Mittagspause. Richter Barner winkt einen Polizeibeamten zu sich. Er soll die Personalien des Mannes aufnehmen, um eine Ordnungsstrafe aussprechen zu können.