„Massiver Eingriff in Grundrechte“

■ Hamburger Datenschützer hält geplante Änderung des Versammlungsgesetzes für verfassungswidrig / Der Bundesrat entscheidet heute über den Gesetzesentwurf

DOKUMENTATION

Heute wird der Bundesrat nach zweiter und dritter Lesung über die von der Bonner Koalition geplante Änderung des Versammlungsgesetzes entscheiden. Die geplante Novellierung soll die Polizei berechtigen, Bild- und Tonaufzeichnungen von Demonstrationen anzufertigen. „Schwere verfassungsrechtliche Bedenken gegen diese Änderung erhebt der Hamburger Datenschützer Henning Schapper in einem Brief an den Justizsenator der Hansestadt, Wolfgang Curilla, den wir im folgenden leicht gekürzt dokumentieren. In diesem Schreiben fordert Schapper den Senator zudem auf, zusammen mit den anderen SPD-regierten Bundesländern zu verhindern, daß der Bundesrat dem Gesetzesvorhaben zustimmt.

Sehr geehrter Herr Curilla,

der Innenausschuß des Bundestages hat zu dem Gesetzesentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Versammlungsgesetzes gleichsam in letzter Minute einen von den Koalitionsfraktionen eingebrachten Änderungsantrag angenommen, der die Einfügung eines Paragraphen 12a vorsieht. Hierin wird die Befugnis der Polizei zur Anfertigung von Bild- und Tonaufnahmen bei oder im Zusammenhang mit öffentlichen Versammlungen geregelt. (...)

Der Änderungsantrag, der als Bundestagsdrucksache noch nicht vorliegt, begegnet schwerwiegenden verfassungsrechtlichen Bedenken. Hierauf habe ich bereits im Rahmen einer Anhörung der SPD-Fraktion in der vergangenen Woche hingewiesen und darum gebeten, daß sich die Fraktion im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens mit allen Kräften bemüht, eine Verabschiedung des Gesetzesentwurfs zu verhindern. Ich gehe aber davon aus, daß der Entwurf trotz allen Widerstandes vom Bundestag beschlossen wird. Deshalb bitte ich den Hamburgischen Senat, sich mit den anderen SPD -geführten Landesregierungen zusammenzuschließen, um zu verhindern, daß der Bundesrat dem Gesetzesvorhaben zustimmt. Ich halte es zwar für wünschenswert, daß die Befugnisse der Polizei zur Anfertigung und Verwendung von Bild- und Tonaufzeichnungen bei öffentlichen Versammlungen im Versammlungsgesetz und nicht in den Polizeigesetzen aller Länder geregelt werden. Die Folge der jetzt betriebenen einheitlichen Regelung ist aber, daß die bereits vorliegenden, wesentlich liberaleren Regelungsversuche einiger Bundesländer gegenstandslos werden. Tatsächlich fällt der Entwurf der Koalitionsfraktionen hinter diese Länderentwürfe weit zurück und ermächtigt die Polizei in großzügiger Weise zum Einschreiten. (...)

(...) Gemäß Paragraph 12a des Entwurfs zum Versammlungsgesetz in der vom Bundestagsinnenausschuß geänderten Fassung (ist) die Anfertigung von Bild- und Tonaufnahmen schon dann zulässig, „wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, daß erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung entstehen“. Demnach reicht für die Zulässigkeit polizeilicher Bild- und Tonaufzeichnungen bereits eine Gefahr für nicht unwesentliche Vermögenswerte aus (siehe dazu die Definition der „erheblichen Gefahr“ in Paragraph 2 Nummer 1c, niedersächsisches SOG).

Die Formulierung „oder im Zusammenhang mit öffentlichen Versammlungen“ läßt die Auslegung zu, daß Bild- und Tonaufzeichnungen bereits bei nichtöffentlichen Vorbereitungstreffen in privaten Räumlichkeiten angefertigt werden dürfen. Damit könnten Polizeibeamte ermächtigt sein, Wanzen oder ähnliches Gerät anzubringen und Gespräche abzuhören, ohne selbst bei solchen Treffen anwesend zu sein, oder aber an der Versammlung teilzunehmen und Aufnahmen anzufertigen, ohne sich als Polizisten zu erkennen zu geben. Ein solches vom Wortlaut der beabsichtigten Regelung gedecktes Vorgehen verstieße nicht nur gegen das Grundrecht der Versammlungsfreiheit, sondern auch gegen die in Artikel 13 GG geschützte Unverletzlichkeit der Wohnung. Außerdem könnte die Regelung dazu herangezogen werden, eine Verletzung der Vertraulichkeit des nicht öffentlich gesprochenen Wortes, die in Paragraph 201 StGB unter Strafe gestellt ist, zu rechtfertigen. Damit würden Äußerungen auf nichtöffentlichen Vorbereitungstreffen „im Zusammenhang mit öffentlichen Versammlungen“ dem strafrechtlichen Schutz des Paragraphen 201 StGB entzogen.

Die Aufbewahrung der anhand von Bild- und Tonaufnahmen gefertigten Unterlagen soll auch dann zulässig sein, wenn die betroffene Person verdächtig ist, Straftaten bei oder im Zusammenhang mit der öffentlichen Versammlung lediglich vorbereitet zu haben. Also auch die straflose Vorbereitung reicht bereits für eine längerfristige Speicherung aus. Als weitere Voraussetzung muß zu besorgen sein, daß vom Betroffenen „erhebliche Gefahren für künftige öffentliche Versammlungen oder Aufzüge ausgehen“. Was mit dieser Formulierung gemeint ist, bleibt völlig unklar. Auf jeden Fall bedeutet sie, daß die Speicherung nicht einmal der Verhütung künftiger Straftaten, also der sogenannten vorbeugenden Verbrechensbekämpfung, dienen muß (...).

Eine verfassungsrechtliche Würdigung der geplanten Regelung führt zu folgenden Ergebnissen:

Das Bundesverfassungsgericht hat im Volkszählungsurteil ausgeführt, daß, wer damit rechnet, bei Teilnahme an einer Versammlung behördlich registriert zu werden, möglicherweise auf eine Ausübung seiner entsprechenden Grundrechte (Artikel 8 und 9 GG) verzichten wird. In der Brokdorf-Entscheidung hat es hierauf verwiesen und gefordert, daß der Maßstab für staatliche Maßnahmen, die das Grundrecht der Versammlungsfreiheit beschränken, wegen der besonderen Bedeutung dieses Grundrechts in einer Demokratie besonders streng sein muß. Diesem Maßstab wird der vorliegende Entwurf nicht gerecht. Denn er ermächtigt die Polizei zur Vornahme exzessiver Maßnahmen, die geeignet sind, den staatsfreien Charakter von Versammlungen zu beeinträchtigen und die Bürger von der Wahrnehmung ihrer Grundrechte abzuhalten. Hierin liegt ein Verstoß sowohl gegen Artikel 8 GG als auch gegen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gemäß Artikel 2, Absatz 1, i.V.m. Artikel 1, Absatz 1 GG.

Darüber hinaus verstößt die Regelung, wenn man im Wege der Auslegung nichtöffentliche Vorbereitungstreffen einbezieht, gegen das in Artikel 13 GG garantierte Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung. Im Zusammenhang damit wird auch das Zitiergebot verletzt, da Paragraph 20 Versammlungsgesetz nur auf die Einschränkung von Artikel 8 GG hinweist. Auf verfassungsrechtliche Bedenken stößt auch der - im Zusammenhang mit der beabsichtigten Poststrukturreform - von den Koalitionsparteien ebenfalls in der Schlußphase der Ausschußberatungen eingebrachte Entwurf zur Änderung des G 10 und der Paragraphen 100a und 100b StPO, der den Nachrichtendiensten beziehungsweise den Strafverfolgungsbehörden die Überwachung sämtlicher Fernmeldedienste ermöglichen soll.

Die Interpretation der pauschalen Ermächtigungen dieses Entwurfs begründet Zweifel, ob hiermit nicht in unzulässiger Weise in das Fernmeldegeheimnis eingegriffen wird. Die hierzu gefaßte Entschließung der Konferenz der Datenschutzbeauftragten vom 5./6.April 1989 füge ich bei und bitte Sie, auch diesen Gesetzesentwurf im Bundesrat abzulehnen.

Ich habe die Presse über mein Schreiben unterrichtet, weil keine der beiden Gesetzesvorhaben bislang in der Öffentlichkeit die nötige Aufmerksamkeit gefunden hat, obwohl es sich um massive Eingriffe in Grundrechte handelt, die einer öffentlichen Diskussion dringend bedürfen. Mit freundlichen Grüße

Schappe