Ein Stuhl blieb leer in Ost-Berlin

SPD und DDR-Opposition trafen sich / Der SED-Geladene kam nicht / Für die DDR-Opposition sind die Vereinbarungen der SPD mit der SED noch Zukunftsmusik/ SPDler Thomas Meyer muß den Dialog mit der SED verteidigen  ■  Aus Berlin Franz Biberkopf

Ein Stuhl blieb frei im ansonsten vollbesetzten Gemeindesaal der Samariter-Pfarrei am Mittwoch abend in Ost-Berlin. Geladen, angekündigt und nicht erschienen war Rolf Reissig, SED-Professor an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften und Mitautor des SED/SPD -Dialogpapiers. Anders als am vergangenen Wochenende, als sich in abgeschiedener Atmosphäre am Scharmützelsee die Parteidelegationen von SED und SPD in einer neuerlichen Runde über Fragen der Menschenrechte gesprächsbereit gezeigt hatten, verweigerte die SED am Mittwoch abend den Dialog mit der kritischen Kirchenbasis. Alles andere wäre eine Sensation gewesen. So aber fehlte den rund einhundert erschienenen Mitgliedern der Gemeinde und unabhängiger Gruppen der eigentliche Adressat für ihre Kritik und dem SPD -Vertreter Thomas Meyer der personifizierte Beweis für den Erfolg der Dialogstrategie seiner Partei. Der symbolisch leere Podiumsstuhl stand für die anhaltende Diskussionsverweigerung der SED mit den Kritikern im eigenen Land und damit zugleich für die Skepsis, mit der viele DDR -Bürger den Parteiendialog zwischen SED und SPD hinter verschlossenen Türen verfolgen. Thomas Meyer von der SPD -Grundwertekommission hatte deshalb an diesem Abend keine leichte Aufgabe, die Chancen zu verdeutlichen, die der SPD/SED-Dialog trotz der innenpolitischen Verhärtung für die Bürger der DDR beinhalten soll.

Bekanntlich hatten die beiden Parteien nach zweijähriger Diskussion im Sommer 1987 ein gemeinsames Papier veröffentlicht, mit dem sieben Jahrzehnte des erbitterten Kampfes der beiden Arbeiterparteien im Dienste „systemüberwölbender“, gemeinsamer Interessen beendet wurden. Neben gemeinsamen friedenspolitischen und unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Positionen wurden in dem Dokument auch Normen einer „Kultur des politischen Streits“ formuliert, die der SED - zumindest verbal erhebliche Zugeständnisse abverlangten: „Die offene Diskussion über den 'Wettbewerb der Systeme'“, die „umfassende Informiertheit der Bürger“ und den „Dialog zwischen allen gesellschaftlichen Organisationen, Institutionen, Kräften und Personen“. Da die SED solcherart gute Vorsätze schon kurz nach Verabschiedung des Dokuments mit der Durchsuchung der Ostberliner Umweltbibliothek, den Verhaftungen und Abschiebungen nach der Luxemburgdemonstration oder dem 'Sputnik'-Verbot kontrastierte, zog die SPD Ende März dieses Jahres eine äußerst kritische Bilanz der ersten Dialogphase. Auch Meyer, der ansonsten mit sanfter Eloquenz für den Parteiendialog warb, mußte da am Mittwoch passen: „Ich verstehe nicht, warum die SED diese Punkte unterschreibt und dann den Dialog im Innern einengt.“ Einige Diskussionsteilnehmer hingegen konnten sich durchaus einen Reim darauf machen: Die SED ziehe einen Legitimationsgewinn schon allein aus der Tatsache, daß die in der DDR mit viel Sympatie belegte SPD sich mit ihr an einen Tisch setze.

Meyer muß weit ausholen, um angesichts solcher Einwände die Dialogbereitschaft der SPD zu begründen. Damals, im Sommer 1987, habe man den Eindruck gehabt, auch die SED übe sich in Sachen Pluralismus, Demokratie und Menschenrechte in neuem Denken. „Damals glaubten wir das riskieren zu können.“ Meyer versucht mit zurückhaltender Argumentation die eher skeptische Stimmung im Saal zu brechen und markiert zugleich positive Veränderungen: Anders als vor dem Dialogpapier weise die SED Kritik heute nicht mehr als Einmischung in die inneren Angelegenheiten zurück. Bärbel Bohley, die als Vertreterin der unabhängigen Gruppen auf dem Podium sitzt, sieht das anders: Man könne sich den Erfolg auch einreden. Am Ende gehe es der SPD mit ihrer Kritik wie den Eingaben schreibenden DDR-Bürgern; sie dürfe zwar - gemäß den Normen der Streitkultur - kritisieren, während sich die Situation weiter verschlechtere. „Das Papier“, formuliert Bohley ihre Ablehnung, „hat mit dem Leben der Menschen in der DDR nichts zu tun.“

Trotz der spürbaren Distanz vieler RednerInnen gegenüber Meyers Trotz-alledem-Optimismus bleibt Bohleys Verdikt an diesem Abend doch die Ausnahme. Die Stimmung im Saal trifft Pfarrer Friedrich Schorlemer, der als Bundessynodaler zu den profiliertesten SED-Kritikern des Landes zählt: Das Papier, das er damals als „Dokument des Aufbruchs“ empfunden habe, suggeriere Gegenwart, sei aber der SED-Wirklichkeit weit voraus; als Ursache der inneren Misere benennt er nicht nur die Starrheit des Regimes, sondern zugleich die Passivität weiter Teile der Bevölkerung. In diese Richtung argumentiert auch ein anderer Teilnehmer: Die Menschen in der DDR wollten „an der Hand der SPD“ zu mehr Bürgerrechten kommen. Er fühle sich da „fremdvertreten“. Ihre Rechte müßten die DDR-Bürger schon selbst durchsetzen. Dem konnte Meyer nur zustimmen: Die SPD könne den Dialog nur anschieben; mit dem Anspruch seiner Durchsetzung aber sei sie überfordert. Für Schorlemer bleibt das Dialogpapier „Zukunftsmusik“ - immerhin.

Das Wechselbad aus Resignation und Hoffnung, das an diesem Abend die Stimmung beherrscht, ist charakteristisch für die derzeitige Situation in der DDR. Die Kritiker der innenpolitischen Verhärtung wissen, daß an der SED und damit am Dialog mit dem Regime auf allen zur Verfügung stehenden Ebenen kein Weg vorbeiführt. Deshalb überwiegt am Ende auch die Zustimmung zum wie immer prekären Verständigungskonzept der SPD: „Führen Sie den Dialog weiter“, wendet sich Schorlemer fast beschwörend an Meyer, und Samariter-Pastor Eppelmann setzt den Schlußakkord: „Fürchtet Euch nicht, redet nur, schweigt nicht“.