Georgier mit Nervengas getötet

■ Regierungszeitung berichtet von Gaseinsatz / Kampfstoffe des Ersten Welkrieges wurden in Tiflis verwendet / Abgeordnete legen Untersuchungsbericht vor / Scharfe Kritik an Militäreinsatz

Berlin (taz) - Durch den Einsatz eines Nervengases gegen friedliche DemonstrantInnen am 8. und 9. April in der georgischen Hauptstadt Tiflis sind mehrere Menschen gestorben. Dies berichtet die Regierungszeitung 'Iswestija‘ in ihrer Mittwochsausgabe. Der Gesundheitsminister der Sowjetrepbulik, Menagarischwili, sprach in der Zeitung von einer Reizsubstanz mit atropinähnlicher Wirkung. Atropin ist ein Stoff, der in größeren Dosen zu Nervenlähmungen, Delirium und schließlich zu Herz- und Atemversagen führt. Schon im ersten Weltkrieg war dieser Stoff einigen Kampfgasen beigefügt worden.

Der Bericht der Untersuchungskommission des künftigen Kongresses der Volksdeputierten, der sechs Abgeordnete angehören, fragt: „Warum wurden Pionierspaten, Tränengas und irgendwelche chemischen Mittel eingesetzt? Warum will man den Ärzten keine genauen Angaben über die chemische Zusammensetzung geben?“ Nach amtlichen Angaben wurden die Stoffe von den Truppen des Innenministeriums eingesetzt. Einer ihrer Vertreter hat im georgischen Fernsehen zugegeben, daß Tränengas verwendet wurde. Demgegenüber zitiert die Parteizeitung 'Prawda‘ gestern einen Sprecher des Militärs, nach dem das Militär kein Tränengas einsetzen könne, weil es nicht zu seiner Ausstattung gehöre. Unklar ist, ob das Militär chemische Kampfstoffe eingesetzt hat und dies der Grund für das Schweigen gegenüber den Ärzten ist. Weiter kritisiert der Bericht der Abgeordneten die Methoden zur Niederschlagung der Demonstration und betont, daß die Armee am 9. April eine friedliche Demonstration angegriffen habe.

Noch immer ist unklar, wer den Einsatzbefehl für die Moskau unterstehenden Truppen gegeben hat, und ob die Parteiführung und Gorbatschow in Moskau vor dem Einsatz unterrichtet waren. Zudem sei es nach dem „Blutsonntag“, so die Kommission, zu einer erheblichen Zensur der Medien gekommen. Es sei zu befürchten, daß dieses Vorgehen „ein Modell für eine mögliche künftige Repression der Perestroika“ sein könne. Die Kommission fordert, dieses Thema auf die Tagesordnung der konstituierenden Sitzung des Kongresses der Volksdeputierten am 25. Mai zu setzen.

Auch die Sowjetische Akademie der Wissenschaften hat am Mittwoch zu Beginn einer Konferenz, bei der die künftigen Abgeordneten der Akademie im Volksdeputiertenkongreß nachgewählt werden sollen, eine „objektive öffentliche Untersuchung“ gefordert. Die Kongreßteilnehmer gedachten in einer Schweigeminute der Opfer von Tiflis. Unterdessen sollen nach amtlichen Angaben in Tiflis die Streiks beendet und der Lehrbetrieb an der Universität und an Schulen wieder aufgenommen worden sein.

Friedhelm Wachs