Nerven wie Drahtseile

Steine und Leuchtspurmunition, abgefeuert auf Polizisten, die eine Kneipe in der Hamburger Hafenstraße stürmten, erregen derzeit die Gemüter in der Elbmetropole. In der Tat nicht die feine hanseatische Art, StaatsbeamtInnen deutlich zu machen, daß sie unerwünscht sind.

Doch eines wird in aller Aufregung immer wieder vergessen: Wer in den Häusern der Hafenstraße wohnt, braucht Nerven wie Drahtseile. Und die Schwelle zur Überreaktion ist sehr niedrig.

Kaum ein Abend vergeht, ohne daß ein Alarm das friedliche Zusammensein zerstört. Mal sind es Zivilfahnder, die Jagd auf BewohnerInnen oder BesucherInnen machen; mal sind es Neonazis, die den „roten Säuen am Hafen“ den Garaus machen wollen; dann sind es Suffköpfe oder angereiste Fischmarkt -Touristen, die meinen, in Ruhrpott-Manier den Hamburgern zeigen zu müssen, wie man eine solche Meile plattmacht; dann lungern wieder Heroindealer in der Gegend herum, die „Anfällige“ in ihre Abhängigkeit bringen wollen; oder es sind die eingeschleusten MedienagentInnen, die plötzlich in Wohnungen auftauchen, um endlich mal live festhalten zu können, wie die „Terroristen in der Hafenstraße“ leben.

Nach den Fußballspielen des HSV oder vom FC St.Pauli sind die HafenstraßenbewohnerInnen auf der Hut vor Überfällen und Brandanschlägen - bis zum Morgengrauen. Wacheschieben gehört zum Alltag in der Hafenstraße.

Diese Form des Psychoterrors, von staatlichen Institutionen und den Medien geschürt, blockiert viele Entscheidungsprozesse. Viel Zeit, die die BewohnerInnen gerne nutzen würden, um politische Diskussionen zu führen, wird durch Wacheschieben und/oder anderen Streß verplempert. Seien es nun die Diskussionen, wie sie das Autoknacken im Schutze der Hafenstraße in den Griff bekommen oder der real existierenden Drogenmafia etwas entgegensetzen können.

Im Kampf gegen die Dealer können die BewohnerInnen dagegen erste Erfolge verbuchen. Zusammen mit Eltern und Lehrern der benachbarten Schule und diversen Stadtteilinitiativen riefen sie eine Initiative gegen den Drogenhandel ins Leben. Dieses Engagement wird sogar von staatlichen Stellen begrüßt, die dem ansteigenden Drogenhandel hilflos gegenüberstehen. Und auch in den Häusern konnten - im Gegensatz zu früher Selbsthilfegruppen die Rauschgiftproblematik in den Griff bekommen.

Trotzdem sieht Voscherau jetzt nach der Randale der vergangenen Woche den willkommenen Anlaß zur endgültigen Kündigung gekommen. Die BewohnerInnen hingegen werfen dem Senat vor, die Auseinandersetzungen mit der Polizei „ursächlich provoziert“ zu haben. Für diese These der BewohnerInnen und einer Anwohnerinitiative spricht zumindest die Häufigkeit und der Ablauf der letzten Polizeieinsätze.

-Nachdem am Vortag bereits „Fischmarkt-Touristen“ mit Knüppeln die Häuser überfallen hatten, standen am 6.März abermals zwölf Personen mit Knüppeln ausgerüstet auf den Dächern der vor den Häusern abgestellten Bauwagen. Die ungebetenen BesucherInnen wurden vertrieben, kamen aber kurze Zeit später mit Bereitschaftspolizei zurück. Es waren nämlich Zivilfahnder gewesen.

-Mitten in die Sitzung des „Initiativkreises Hafenstraße“ in dem Treff „Tante Hermine“ platzten am 31.März abermals acht Zivilfahnder, angeblich, um einen Autoknacker zu suchen. Sie mußten unverrichteter Dinge abziehen.

-In der Nacht zum 7.April explodierten innerhalb der Bauwagenkolonie Böller. Die Wachen kamen aus den Häusern und verfolgten ein Trio, wurden dabei von einer Brücke mit Leuchtspurmunition beschossen. Nach 100 Metern Verfolgungsjagd blickten die HafensträßlerInnen in die Mündungsläufe von Zivilfahnder-Pistolen. Das Trio entpuppte sich als Staatsschützer.

Und jetzt der Mittwoch vergangener Woche. Die BewohnerInnen: „Den ganzen Tag war schon zu merken, daß was in der Luft liegt. Ständiges Umkreisen mit Zivilbullen und Mannschaftswagen, Fotografieren der BewohnerInnen. In der Nacht stellen sich zwei Streifenwagen vor die Kneipe 'Onkel Otto‘. Jeder wird abgelichtet. Die Streifenwagen bleiben unangetastet. Dann wird die Kneipe von 40 Bullen gestürmt, ohne Begründung, ohne Ergebnis. Wir haben reagiert und sie massiv angegriffen. Es hat sich alles entladen.“

Die Polizei gab anschließend an, daß ein Beamter einen Mann, der am Vortag ein Auto geknackt haben soll, trotz Dunkelheit und weiter Entfernung wiedererkannt haben will. „Rein zufällig“, so der Polizeisprecher, sei Bereitschaftspolizei in der Gegend gewesen und habe dann die Kneipe gestürmt.

Damit hatte man die HafensträßlerInnen an dem Punkt, wo man sie längst haben wollte, und der Knall war da. Dabei hätte es in bezug auf Automarder sicher auch andere Möglichkeiten gegeben, denn ein Teil der BewohnerInnen verurteilt diese Form von Beschaffungskriminalität durchaus. Bereits weit im Vorfeld der Eskalation hatten sie gewarnt, dadurch würden den Räumungsstrategen Anlässe auf dem Silbertablett präsentiert. Im Ernstfall wurde den Automardern natürlich doch immer Schutz vor der Polizei geboten - gewollt oder ungewollt, denn die Häuser stehen offen. Daher kam zu guter Letzt schon ein fast hilfloser Vorschlag vom Hafenrand: Die Hafenstraße sollte zur parkfreien Zone erklärt werden.

Kai von Appen