: Verteidiger: „Jeder hat mal gesägt...“
Plädoyers im Verfahren gegen die vom Startbahn-Prozeß abgetrennten Strommasten-SägerInnen Verteidigung forderte Bewährungsstrafen / Bundesanwaltschaft hatte hohe „präventive“ Haftstrafen verlangt ■ Aus Frankfurt Heide Platen
Freiheitsstrafen zur Bewährung forderten gestern die VerteidigerInnen von drei ehemaligen Angeklagten aus dem Startbahnprozeß in Frankfurt. Die Verfahren waren erst am 13.April vom Prozeß um die tödlichen Schüsse an der Startbahn West abgetrennt worden. Auch das Verfahren gegen einen weiteren Angeklagten wird inzwischen getrennt verhandelt. Sie müssen sich jetzt nicht mehr parallel zur Anklage des Mordes wegen Mitgliedschaft in einer „terroristischen Vereinigung“ (§ 129a) verantworten. Ihnen werden aber weiterhin Anschläge auf Strommasten zur Last gelegt, die sie auch gestanden haben. Rechtsanwalt Gerd Temming hielt für seinen Mandanten MichaelM. einen eindringlichen Vortrag über die Gefahren der Atomenergie, über Angst und Wut der Menschen nach Tschernobyl: „Ich weiß nicht, welche zynische Verkrüppelung die Menschen dazu bringt, sich wie Vogel Strauß und die Lemminge zu verhalten.“ Zur von der Bundesanwaltschaft am Dienstag geforderten „abschreckenden Wirkung“ der Strafen sagte er, Prävention sei hier zur „bloßen Floskel“ verkommen. Eine solche Forderung spreche für die „Unversöhnlichkeit“ der Bundesanwaltschaft, die mit einer harten Strafe den genau gegenteiligen Effekt erreiche. Daß der Staat „seine“ Terroristen brauche, habe schließlich selbst der VS kritisiert. Rechtswalt Weider wies für SigrunG. Noch einmal auf deren Motive hin. Sie habe sich am Strommastensägen „spontan“ und aus emotionalen Gründen beteiligt und habe die Tat gestanden. Sie habe nicht „egoistisch Selbstjustiz“ geübt, wie ihr im Plädoyer der Staatsanwaltschaft vorgeworfen worden war. Daß sie im Gerichtssal geschwiegen habe, dürfe nicht strafverschärfend gewertet werden. Ihre Tatbeteiligung sei auch nicht, wie die Anklage behauptet, höher gewesen als die anderer Angeklagter: „Jeder hat mal gesägt, jeder hat mal geölt, jeder hat mal Schmiere gestanden.“ Mit Blick auf die familiäre Siuation von SigrunG. forderte er das Gericht auf, „im untersten Bereich“ zu strafen, jedenfalls aber eine Bewährungsstrafe unter zwei Jahren zu verhängen.“ Hilfsweise beantragte er, zwei PsychologInnen zu hören.
Die Bundesanwaltschaft hatte für SigrunG. eine dreijährige Freiheitsstrafe wegen Anschlägen auf zwei Strommasten, für MichaelM. ein Jahr und neun Monate und für UrsulaJ. eine zehnmonatige Haftstrafe für Anschläge auf je einen Mast gefordert. Bei UrsulaJ. berücksichtigte die Anklage mildernd, daß sie bei einem Strommastenanschlag im Sommer 1986 in Dreieich-Offenthal lebensgefährlich verletzt worden war. Die Plädoyers der Verteidigung dauerten bei Redaktionsschluß noch an.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen