Tucholsky aufgeblasen

■ Im Packhaus Theater sitzt man bei einer Tucholsky-Rock-Show auf Worten des Meisters

Zur Eintrittskarte wurde am Freitagabend ein Etwas durch den Kassenschlitz des Packhaustheaterkartenverkaufes geschoben, das sich, einmal aufgeblasen, als portables Sitzkissen entpuppte. Ist der Stöpsel hineingedrückt, wird es zum Textträger: „So, da sitzen wir/ Ich geh ab und zu ganz gern ins Theater/ Wissen se: Es lenkt ab“, so das zu besetzende Zitat, das Tucholsky bei Rowohlt geäußert haben muß. Das mit den Sitzkissen hat so seinen Sinn, gibt es doch keine anderen Sitzgelegenheiten als den nackten Boden, auf dem bereits zahlreiche Schüler kauern.

Diese unkonventionelle Premiere ist der Comedie Berlin zu verdanken, die aus Tucholsky-Gedichten eine Rock-Revue gemacht hat. „Dein tiefstes Lebensgefühl„ beginnt auch so, wie eine Rockrevue zu beginnen hat. Nach der Ansprache an den „Lieben Leser 1985„, Spot an, Musik ab - yeah! Im Rampenlicht finden wir eine sechsköpfige Combo (g, b'dr, sax, keyb,) und einen Sänger so zwischen Udo L. und Rio R., mit mindestens zwei Lederjacken, einem Jacket, einer gestreiften- und einer Lederhose, den unvermeidlichen Udo -Hut nicht zu vergessen. Daß die acht (sieben Männer und eine Frau) aus dem Show-biz kommen, ist nicht zu übersehen, das „Produktionsteam“ läßt an Professionalität nichts zu wünschen übrig. Im

Wechsel rezitieren „Schauspieler“ Leon Boden und „Sänger“ Logo Muschinsky. Von welcher Aktualität die Texte von Tucholsky immer noch sind und in welcher Weise sie sich sogar als Rocksongs eignen, ist schon erstaunlich.

Die Comedie Berlin hat es geschafft, Tucholskys traurige, bissige, schöne und schreckliche Gedichte zeitgemäß und unterhaltsam zu präsentieren, ohne dabei peinlich zu werden. Die Jazzrockmäßige Interpretation wird wohl nicht auf jeder Musikge

schmackslinie gelegen haben, ihre Aufgabe, die Texte näher zu bringen, erfüllte sie allemal. Die traurige Erscheinung „Der Mann der immer zu spät kam„, gebeugt und vom Leben gebeutelt, der sich uns kurz vor seinem Verschwinden als „Glück“ vorstellt, ist von einer Intensität, die einen sogar die eingeschlafenen Beine vergessen lässt. Während wir uns später mit Tucholsky auf die Suche nach dem „tiefsten Lebensgefühl„ machen, könnte die eine oder der andere fast versucht sein, zu glauben, es an diesem Abend gefunden zu haben. Aber spätestens beim Herausgehen, ist die Luft raus, aus Tucholskys Zitaten, auf denen so unbequem zu sitzen war. Sie können wieder an der Kasse abgegeben werden. KeD

Die Rockrevue „Dein tiefstes Lebensgefühl“ nach K. Tucholsky, bis zum 30. April im Packhaus