Wir sind alle Fußgänger

■ Was Sie über Rotläufer, Ampelphasen, Spätgrün und feindliche Ströme auf Konfliktflächen wissen sollten

Bettina Bausmann

Ein letzter Blick auf die Stoppuhr. Die Fußgängerampel Leibnizstraße/Ecke Goethestraße ist immer noch rot. Bevor die Ampel umschaltet, verstreichen endlose 50 Sekunden. Noch 20 Sekunden, zehn Sekunden, drei Sekunden - Grün! Regungslos starre ich in das grüne Licht. Erstes Ergebnis: Ein Fußgänger braucht etwa eine Sekunde Reaktionszeit, um den Wechsel auf Grün umzusetzen. Als ich gerade die Hälfte der Straße überquert habe, schaltet die Ampel wieder auf Rot. Die Stoppuhr zeigt sieben Sekunden. Komplizierter wird es bei der Messung der Straßenbreite. Ein Passant hat sich bereit erklärt, das eine Ende des Maßbandes zu halten, während ich mit dem anderen über die Straße laufe. Nach 19 Metern bin ich angekommen. In der Zwischenzeit ist längst wieder Rot. Kaum habe ich mein Maßband von der Fahrbahn gezogen, rasen die Autos los. Links-Zwo-Drei-Vier

Die einzige Institution, die Gehgeschwindigkeiten und Schrittlängen ausgewertet hat, ist die Bundeswehr. Als Marsch bezeichnet man schnelles Gehen mit einem Schritt -Tempo von sechs Stundenkilometern. Man orientiert sich an den Langsamsten. Bei einem Marsch über die Leibnizstraße würde den Jungs von der schnellen Truppe dann allerdings bereits nach zehn Metern das grüne Licht ausgehen. Der zivile Fußgänger muß in sieben Sekunden die 19 Meter breite Leibnizstraße überqueren, wenn er die andere Straßenseite noch bei Grün erreichen will. Von der Beschleunigungszeit mal ganz abgesehen, bedeutet das eine konstante Gehgeschwindigkeit von knappen zehn Stundenkilometern!

„Das ist Quatsch“, widerspricht mir Werner Polenz, Mitarbeiter des Berliner Verkehrssenats, „das rote Licht sagt noch gar nichts.“ Tatsächlich verbleiben nach Signalwechsel noch ein paar Sekunden „Fußgängerräumzeit“, in der wir „zügig die Straße räumen“ sollen. Fachjargon der Straßenverkehrsordnung. In der Broschüre Die Goldenen Regeln für ältere Fußgänger ist das „zügig“ verschwunden, dort heißt es: „Springt die Ampel von Grün auf Rot, während Sie noch auf der Straße sind - ruhig weitergehen.“

Das hört sich gut an, stünde nicht in der nächsten Zeile der Satz: „Vermeiden Sie es, die Fahrbahn bei 'Spätgrün‘ zu benutzen.“ Bei einer Grünphase von sieben Sekunden, davon mindestens einer „Schrecksekunde“, sollten ältere Menschen gegen Ende der Grünzeit die Fahrbahn meiden. Welcher Fußgänger weiß schon, ob er die Fahrbahn bei frühem, mittlerem oder spätem Grün betreten hat? Für Günther Hofmann, Leiter des Arbeitsausschusses „Lichtanlagen“ ist das ganz klar, „Wissen Sie, Grün ist das eine, Rot etwas ganz anderes.“ Auf meine Frage, welchen Rat er denn dem behinderten oder älteren Fußgänger mit auf den Weg geben würde, windet er sich. Trotzig besteht er darauf, daß für „jeden, aber auch wirklich für jeden Fußgänger 1,2 Meter pro Sekunde machbar sind“. Mit zehn km/h ins Jahr 2000

Messungen dagegen haben bewiesen, daß langsame Fußgänger durchschnittlich 0,5 Meter - und selbst die Sportlichsten nicht mehr als 1,2 Meter in der Sekunde gehen können. In den Richtlinien für Lichtsignalanlagen wurde der Höchstwert plötzlich zum Normalwert, mit dem Zusatz, „höchstens 1,5 Meter pro Sekunde“. Bedenkt man, daß Ampeln als Überquerungshilfen gedacht sind, sich also eigentlich an den Langsamsten orientieren müßten, wirkt der Satz von Joachim Schönleitner, Leiter der Abteilung „Lichtsignalanlagen“ in Berlin, regelrecht komisch: „Bei uns ist man fortschrittlich mit der Annahme einer Gehgeschwindigkeit von 1,2 Metern pro Sekunde.“

Das Verbraucher-Magazin 'Öko-Test‘ untersuchte die Gehgeschwindigkeiten von sogenannten Minderheiten im Straßenverkehr, also von Behinderten, alten Menschen, Kindern oder Frauen mit Kinderwagen etc. Der Test ergab, daß man diesen Verkehrsteilnehmern maximal 0,8 Meter in der Sekunde zumuten kann. Immerhin gehören ein Viertel aller Hamburger zu dieser Minderheit.

Kinder und ältere Menschen gelten in der offiziellen Verkehrssicherheitspolitik als die zwei „Problemgruppen“, denen man mit besonderen „Erziehungsprogrammen“ beikommen will. Erziehungsberechtigt sind der Deutsche Verkehrssicherheitsrat und die Verkehrswachten. Da jüngere Kinder allenfalls die Farbkombination Rot/Grün erfassen können, dichteten die Verkehrslehrer: „Bei Rot stehen, bei Grün gehen“ - wissend, daß die Kinder in sieben Sekunden nicht sehr weit kommen werden. Zu welchen intellektuellen Höhenflügen Verkehrsexperten fähig sind, zeigt der Überquerungstip der 'Fachzeitschrift für Verkehrssicherheit‘: „Allerdings dürfte der ungünstigste Zeitwert der günstigsten Richtung nicht wesentlich schlechter als der günstigste Zeitwert der ungünstigsten Richtung sein.“ Wer sich jetzt immer noch nicht sicher ist, ob er die erforderlichen 1,2 Meter schafft, sollte nachmessen und notfalls noch etwas trainieren.

'Öko-Test‘ probierte Fußgängerampeln in 38 bundesdeutschen Städten aus und zog für elf Großstädte das Fazit: „Hier sind Fußgänger unerwüscht.“ In 23 Städten, urteilten die Ampeltester, steht man sich „die Beine in den Bauch“.

Warum verlängert man eigentlich nicht einfach die Grünzeiten? „Weil wir dann die gesamte Umlaufphase der Ampel verlängern müßten“, antwortet Hofmann, und damit täten sie den Fußgängern wahrhaftig keinen Gefallen. Die Verkehrspolitiker befinden sich in der Tat in einem Dilemma. Einerseits zeigen Gutachten, daß Grünzeiten die kürzer als zehn Sekunden dauern eine Gefahr für den Fußgänger bedeuten, andererseits muß man für ein längeres Grün an Kreuzungen auch ein längeres Rot in Kauf nehmen. Untersuchungen haben gezeigt, daß die Zahl der Rotläufer ab 40 Sekunden Wartezeit vor der Ampel stark zunimmt. Günther Hofmann hat resigniert: „Wir haben es nun mal mit einer Konfliktfläche zu tun, an der feindlich Ströme aufeinanderprallen.“ 1988 sind in den „feindlichen Strömen“ 39.000 Fußgänger verunglückt. International - oder EG-konform?

Die Frage, warum es in Deutschland kein Signal zwischen Rot und Grün gibt, wiegelt Hoffmann mit einer internationalen Bestimmung ab, wonach es kein Gelb an Fußgängerampeln geben dürfe. Komischerweise haben die Düsseldorfer Fußgänger seit Jahren eine gelbe Übergangszeit. Hier leuchtet zwischen Grün und Rot ein „gelber Querbalken“. Auch einen Kompromiß, zum Beispiel ein blinkendes Grün wie in Italien, findet der Berliner Verkehrsplaner unakzeptabel. Man sehe es ja in Italien, wie chaotisch es zuginge. „Wenn das Grün aufhört zu blinken, muß der Fußgänger, der noch auf der Straße steht, rennen, sonst wird er überfahren.“ Statt bei den langsamsten Verkehrsteilnehmern zu knapsen und sich mit internationalen Bestimmungen rauszureden, an die sich außer den Deutschen sowieso niemand hält, müssen unkonventionelle Ideen her. Warum schaltet man eigentlich den Autofahrern ihre dritte Lampe nicht ab und gibt sie statt dessen den Fußgängern? Sieht man von dem wünschenswerten, aber utopischen Fall ab, daß die Autofahrer bei Rot ihren Motor abstellen und erst bei Gelb wieder anstellen würden, ist die gelbe Übergangszeit wenig sinnvoll. So ad hoc sei das nicht möglich, meint Hans Joachim Illmann, Leiter der Verkehrsabteilung beim ADAC. Die Signalschaltung sei EG -konform. Abgesehen davon, daß weder die Autofahrer unter unseren deutschen Nachbarn, noch die amerikanischen oder die Schweizer Autofahrer ein Gelb haben, umgehen diverse EG -Staaten das Lichter-Diktat, indem sie blinkende oder akustische Signale an Fußgängerampeln zwischenschalten.

Der mächtigen Auto-Lobby liegt der Fußgänger trotzdem am Herzen. „Wenn wir aussteigen, sind wir ja alle Fußgänger“, sinniert Illmann. Dennoch müsse das Gelb bleiben, wo es ist. „Die Leute fangen sonst an zu trödeln, Gelb suggeriert doch ganz klar: geh langsamer!“ Illmann scheint den Dingen auf den Grund gegangen zu sein: „Wissen Sie, das ist ein psychologisches Problem.“ Meint er etwa, daß eine Autofahrer -Psyche Gelb anders verarbeitet, oder daß das Fußvolk generell labiler ist? Fest steht, daß der Fußgänger bei Signalwechsel nicht nur psychische, sondern auch physische Probleme hat, und wenn er von einem Polizisten beobachtet wird, auch noch mit Geldstrafen rechnen muß. In Bremen sollte eine Fußgängerin ein Bußgeld zahlen, weil sie bei Rot über die Straße gelaufen war. Die Hausfrau geriet wegen des Fünf-Mark-Knöllchens derart außer Kontrolle, daß sie dem verschreckten Beamten erst die Mütze vom Kopf riß, sie ihm dann vor die Füße warf und anschließend auf dem Präsidium tobte.

Schikane hin oder her: Ampeln sind notwendig. Mittlerweile ist der Straßenverkehr für Fußgänger derart gefährlich geworden, daß man uns überhaupt nicht mehr zutrauen kann, selbstständig zu entscheiden, wann und wo wir die Straße überqueren wollen. Auf Ampeln kann man sich verlassen. Wozu noch selber denken, wenn man doch nur auf die Lichtzeichen achten muß. Sie verhindern, daß wir dem Autoverkehr rechtlos ausgeliefert sind, denn wenn die Ampel auf Grün umschaltet, dürfen wir gehen.

Der Fußgänger, der blind auf sein Grün vertraut, sollte sich nicht wundern, wenn er auf abbiegenden Verkehr stößt. 20 Prozent aller Fußgängerunfälle an Ampeln sind Abbiegeunfälle. Die Verkehrsexperten haben sich, wie in so vielem ihre Unschuld bewahrt. 1959 behaupteten sie: „In den letzten Jahren hat sich die Verkehrspraxis erfreulicherweise dahin entwickelt, daß die Kraftfahrer den Fußgänger gesteigerte Rücksichtsnahme und Höflichkeit entgegenbringen.“ Die Ausnahmen müssen schon bedrückend gewesen sein, da man im Jahr darauf die Straßenverkehrsordnung dahingehend abänderte,„den Führern der einbiegenden Fahrzeuge aufzuerlegen, auf Fußgänger besondere Rücksicht zu nehmen“. Immer die Radfahrer

Dem Fußgänger fehlt einfach die Lobby. So erstaunt es auch weiter gar nicht, daß die Berliner AL die verkehrspolitische Wende mit einer „Radfahrerfreundlichen Ampelschaltung“ einleiten will. Bei der rot-grünen Koalition stehen neben Tempo 30 im Stadtverkehr, Nachttaxen für Frauen, Ausbau des S-Bahnnetzes, noch allerlei Streicheleinheiten für den städtischen Fahrradfahrer auf dem Programm. Für die Fußgänger blieb übrig: „Aus Rücksicht auf die Fußgänger soll auf einen weiteren Radwegebau verzichtet werden.“ Da ist selbst der Forderungskatalog des ADAC großzügiger. Die Freunde der Autofahrer fordern kürzere Ampelphasen für Fußgänger und einen verstärkten Bau von Fußgängerüber- oder Unterführungen. Damit hätte sich das Problem für sie erledigt: Der Fußgänger wäre endlich von der Straße verschwunden.

Der Sinn und Zweck von Ampeln beschränkt sich darauf, den Autoverkehr möglichst wenig zu behindern. Vollmundig tönt Michael Kramer, Verkehrsexperte der Berliner AL, langfristig die Grünphasen verlängern zu wollen. Mit ihrem Verkehrskonzept soll die „Gleichrangigkeit der Verkehrsarten“ verwirklicht werden. Auf die Frage, was dabei denn für die „dritte Art“ herausspringen soll, weiß Kramer „noch“ keine Antwort.

Allen zornigen Fußgängern sei der Mängelbogen empfohlen, den der Fußgängerschutzverein herausgibt: Mängelbogen für die Aktion „Fußgängerfreundliche Ampeln!“, Fußgängerschutz -Verein - Fuß e.V., Kirchstraße 4, 1000 Berlin 21