Sowjetische Alternativen

■ Zu dem von Juri Afanassjew herausgegebenen Band „Es gibt keine Alternative zu Perestroika: Glasnost, Demokratie, Sozialismus“

Walter Süß

Für den normalen Sowjetbürger ist es bisher außerordentlich schwierig, an dieses Buch heranzukommen. Die erste Auflage, die in einer Höhe von 10.000 Exemplaren gedruckt wurde, war den Delegierten der Parteikonferenz der KPdSU im Juni 1988 vorbehalten. Aber auch die Delegierten haben nicht alle ein Exemplar bekommen. Die zweite Auflage, diesmal 40.000 Stück, war im regulären Buchhandel sofort vergriffen. Jetzt gibt es eine dritte Auflage, in einer Höhe von 100.000 Exemplaren. Auf dem Schwarzmarkt kostet dieses Buch 60 Rubel, mehr als einen durchschnittlichen Wochenlohn. Billiger ist es in den Beriozka-Läden, doch dort muß man es mit Devisen bezahlen. Trotzdem wird es in der Sowjetunion seine Leser finden. Etliche Beiträge wurden in gekürzter Form in Zeitschriften abgedruckt. Radio Moskau hat Zusammenfassungen der wichtigsten Artikel gesendet. Verschiedene Zeitungen haben sehr positive Besprechungen veröffentlicht.

Dieses große Interesse ist verständlich, denn in diesem Band wird kaum ein heißes Eisen ausgespart. Es finden sich dort Beiträge über die Geschichte des Stalinismus, über die frühere und heutige Rolle des KGB, also der Geheimpolizei, über die Frage, ob die Weichen für die sowjetische Entwicklung nicht schon unter Lenin, wenn nicht gar schon durch Marx und Engels falsch gestellt worden sind. Debattiert wird über die Widerstände gegen die Perestroika seitens der Staats- und Parteibürokratie, aber auch seitens großer Teile der Bevölkerung. Gefragt wird, ob es nicht an der Zeit wäre, „Glasnost“, also von oben erlaubte und sogar geförderte Kritik, abzulösen durch allgemeine Pressefreiheit. Erörtert wird die Alternative Einparteiensystem oder Mehrparteiensystem und das Verhältnis zum „Westen“.

Die 'Moskowskaja Prawda‘ schrieb in einer Rezension: „Dieses Buch ist in vielem einzigartig. Erstens sind es die Schriftsteller überhaupt nicht gewohnt, daß man sie drängt, etwas zu schreiben. Hier hat der (Progress-) Verlag selbst gesagt: Schreibt uns möglichst schnell einen Essay, und der Rest ist unsere Sache. Zweitens ist es ein breites Spektrum von Meinungen, Einschätzungen, Ansichten und Vorschlägen für die Lösung von Problemen. Der Sammelband (...) vermittelt uns eine ungewohnte Erfahrung: die Wiedergeburt des sowjetischen politischen Buches.“

Herausgegeben wurde das Buch von dem Rektor der Moskauer Hochschule für Geschichte und Archivwesen, dem Historiker Juri Afanassjew. Beigetragen haben zu diesem umfänglichen, fast 800 Seiten starken Buch über 30 Autoren. Viele von ihnen kann man zu den Vordenkern Gorbatschowscher Reformpolitik rechnen. Einige haben hohe Positionen im Wissenschaftsestablishment inne, andere galten noch bis vor kurzem als „Dissidenten“, wieder andere sind heute in der sowjetischen Alternativbewegung aktiv. Um nur einige Namen zu nennen, die auch bei uns bekannt sind: die Soziologin Tatjana Saslawskaja, die Schriftsteller Ales Aldamowitsch und Daniil Granin, die Sozialwissenschaftler Jewgeni Ambarzumow, Alexander Bowin, Fjodor Burlazki und Anatoli Butenko, der Physiker und Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow.

Zusammen haben sie mit diesem Band ein Werk geschaffen, das man gerade wegen seiner Vielfalt und Widersprüchlichkeit, der Radikalität und des Ideenreichtums seiner Kritik und dem ernsten Engagement der Verfasser als Manifest des entschlossensten Flügels bezeichnen kann.

Der Historiker Leonid Batkin analysiert in seinem Beitrag die politische Situation, die die Reformpolitiker im Jahre 1985 vorfanden. Batkin geht von der überrraschend klingenden These aus, daß es falsch sei, anzunehmen, die Sowjetunion wäre - etwa unter Breschnew - von einer Kommunistischen Partei geführt worden.

„Das Dilemma besteht darin, daß es bei uns in Wirklichkeit keine Führung durch die Partei gibt. Schon seit langem nicht mehr. Das ist das Schlimmste. Die für eine offensichtliche Tatsache gehaltene Existenz des Parteiensystems in der UdSSR ist ebenfalls höchst zweifelhaft. Die Partei hat die Merkmale einer politischen Partei verloren. Deshalb befindet sich die KPdSU nicht an der Macht.“ (235)

Batkin kommt zu dieser These, indem er zwischen politischer Führung und schlichtem Befehl unterscheidet. „Die Partei führt bei uns leider niemanden und nichts, weil es in unserer Gesellschaft im wesentlichen nichts gibt, was man führen könnte, weil es nichts gibt, was man nicht einfachkommandieren könnte. (...) Es genügt ein Gespräch im Amtszimmer oder ein Telefonanruf.“ Er fügt hinzu, daß eine Partei, die zu kommandieren gewohnt ist, es verlernt, politisch zu überzeugen.

Als das grundsätzliche Problem dieses Systems diagnostiziert Leonid Batkin die Zerstörung der Politik. „Es verschwand die Politik als spezifische moderne Sphäre der menschlichen Tätigkeit, in der verschiedene Interessen von Klassen und Gruppen aufkommen und aufeinanderprallen, wo die Positionen öffentlich und direkt konfrontiert werden und nach Verfahren gesucht wird, einen gewissen dynamischen Kompromiß zu suchen.“ (207) Daraus folgt, daß der Kernbereich der Reformpolitik darin bestehen muß, Politik als öffentliche Auseinandersetzung über Interessenkonflikte wieder möglich zu machen. Das aber ist mit „Demokratisierung“ gemeint.

Eine Reihe von Autoren des Bandes haben den Versuch unternommen, Antworten zu finden auf die Frage, wie der Stalinismus möglich war und welche Strukturen er hervorgebracht hat, um einen Rückfall auszuschließen.

Der bekannte Politologe Anatoli Butenko vom Institut für Wirtschaft des sozialistischen Weltsystems in Moskau äußert starke Zweifel, ob die Sowjetunion unter Stalin als „sozialistisch“ bezeichnet werden kann. Er erinnert dann aber daran, daß schon Marx und Engels keinen Ausschließlichkeitsanspruch auf den Terminus „Sozialismus“ erhoben, sondern auch von „feudalem“ und „bürgerlichem Sozialismus“ und von „Kasernenhofsozialismus“ sprachen. Was bedeutet das für die Sowjetunion? Butenko antwortet darauf: „Ohne Kapitalisten leben heißt noch längst nicht, sozialistisch zu leben. Es hatte sich etwas Drittes ergeben. Was? (...) In der Sowjetunion war bis zum Ende der dreißiger Jahre die Stalinsche Vorstellung vom Sozialismus verwirklicht, der Stalinsche staatlich-administrative Sozialismus im wesentlichen aufgebaut - unter Herrschaft der Partei- und Staatsbürokratie, mit seinen Massenrepressalien und der menschlichen Angst, ohne elementare Demokratie und ohne Glasnost, ein Sozialismus, der völlig den (...) Vorstellungen des Marxismus (...) vom Kasernenhofsozialismus entsprach.“ (649)

Wessen Interessen hat dieses System vertreten? Der Sozialwissenschaftler Viktor Kisseljow gibt darauf die Antwort: „Sicher ist es richtiger, Stalin und seine Umgebung nicht als Vertreter der Arbeiterklasse (zu bezeichnen), deren Interessen sie entstellt haben, sondern als Vertreter der lumpenproletarischen Schicht...“ (468)

Entsprechend wählte sich dieses System seine Feinde. Anatoli Butenko schreibt dazu: „Seine Spitze richtete sich schon nicht mehr gegen die Ausbeuter und die Feinde des Sozialismus, sondern gegen die Werktätigen selbst, zudem allzuoft gegen die treuesten Anhänger des Sozialismus - die Leninsche Garde sowie die Partei-, Staats- und militärischen Kader der sowjetischen Gesellschaft.“ (653)

Ähnlich argumentiert Alexander Bowin, Kommentator bei der Regierungszeitung 'Izvestija‘: „Der geistig und politisch am besten entwickelte, selbständige, initiativreiche Teil der Partei, der die Bewährungsprobe durch die Revolution und den Bürgerkrieg bestanden hatte, wurde zerschlagen und vernichtet.“ (616)

Es wäre falsch zu glauben, der Terror der dreißiger Jahre habe sich auf die „Schauprozesse“ gegen die alte Parteigarde beschränkt. Leonid Batkin fragt: „Ist es nicht höchste Zeit, nicht nur von zu Tode gehetzten Staatsmännern, Schriftstellern und Wissenschaftlern zu berichten, sondern auch über die planmäßige Vernichtung des eigenen Volkes...?“

Dieser Krieg gegen das eigene Volk begann mit der Zwangskollektivierung, die Anfang der dreißiger Jahre zu einer Hungersnot führte, die Millionen Todesopfer forderte. Dieser Krieg wurde in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre fortgesetzt mit dem Großen Terror gegen die Intelligenz, gegen nationale Minderheiten, gegen jeden, der darauf beharrte, selbständiges Denken, eigene moralische Maßstäbe zu bewahren. Dem Großen Terror sind so viele Menschen zum Opfer gefallen, daß allein schon deshalb die noch bis vor kurzem gültige, offizielle Ideologie geradezu lächerlich wirkt, die nur von „Personenkult“, von „Irrtümern“ und von „Verletzungen der sozialistischen Gesetzlichkeit“ sprach.

Igor Winogradow schreibt über die Konsequenzen, die es hat, wenn das ganze Ausmaß des stalinistischen Terrors endlich zur Kenntnis genommen wird: „Das läßt sich nicht mehr nur durch den bösen Willen Stalins und seiner Handlanger erklären... (...) Damit ein Repressions- und Vernichtungsapparat dieser Dimensionen real existieren und 'normal‘ funktionieren konnte, war auch eine dementsprechende Struktur der Gesellschaft, ihrer Einrichtungen und Mechanismen (notwendig).“ “...wir (müssen) in der Tat zugeben, daß wir alles Geschehene nicht nur als riesiges Unglück, Unheil und als die größte Tragödie des Volkes auffassen können und dürfen. Es ist auch seine Schuld. Unser aller Schuld.“

Obwohl alle Autoren engagierte Anhänger der Perestroika sind, betreiben sie doch keinerlei Schönfärberei hinsichtlich der Unterstützung der Reformpolitik durch die Bevölkerung. Sie räumen ein, daß es weit verbreitete Skepsis gibt, die in letzter Zeit sogar noch zunimmt. Daran wird sich wohl auch erst dann etwas ändern, wenn die materielle Lebenssituation des Volkes sich spürbar verbessert hat.

Welche Alternativen gibt es für die künftige Entwicklung? Eine Antwort auf diese Frage sucht die Soziologin Tatjana Saslawskaja, deren Karriere auch ein typisches Produkt der Perestroika ist. Vor fünf Jahren arbeitete Saslawskaja noch in einem mittelgroßen soziologischen Institut in Sibirien, in Novosibirsk. Ihre Arbeiten, mit denen sie die künftige Reformpolitik durch soziologische Analysen vorbereitete, kannten allenfalls Insider. Heute ist Saslawskaja die Vorsitzende des sowjetischen Soziologenverbands. Sie bereitet gegenwärtig eine umfangreiche Studie über hemmende und fördernde sozialökonomische Faktoren der Perestroika vor. Ihr Beitrag zu dem Band faßt Resultate aus dieser Studie zusammen. Was sagt sie über die Entwicklungsalternativen, die es gegenwärtig in der Sowjetunion gibt? Sie nennt deren drei:

-eine offen reaktionäre, stalinisti sche,

-eine liberal-konservative und

-eine revolutionär-demokrati sche Entwicklungsalternative.

„Die prinzipiellen Gegenkräfte sind relativ gering. Die wirkliche Alternative besteht darin, wie sich die Perestroika vollziehen soll, ob sie einen revolutionären (radikalen) oder evolutionären (liberal-konservativen) Charakter trägt.“ (61)

Die größte Gefahr für die Reformpolitik besteht darin, meint Saslawskaja, daß die revolutionär-demokratische Politik der Gorbatschow-Führung abgelöst wird durch eine liberal-konservative Politik, die die Interessen der Mehrheit des Apparates ausdrücken würde. Was wäre die wahrscheinliche Konsequenz? Der „Rückstand der UdSSR gegenüber den entwickelten kapitalistischen Ländern (wird) einen irreversiblen Charakter annehmen, so daß die einstige Großmacht ihre internationalen Positionen nach und nach einbüßen und versuchen wird, ihr eigenes Volk vor der übrigen Welt mit einem neuen 'Eisernen Vorhang‘ abzuschirmen und den Widerstand der demokratischen Kräfte mit Hilfe von Repressalien zu unterdrücken, wodurch sie sich in ein isoliertes Randgebiet der Welt verwandeln würde.“ (62)

Um einen solchen Sieg der konservativen Kräfte zu verhindern, ist eine weitsichtige und konsequente Reformstrategie notwendig. Wie die auszusehen hat, darüber gibt es einige Differenzen. Während der Ökonom Gawrill Popow davor warnt, allzuweit vorzupreschen und dadurch den Konservativen Munition zu liefern, warnt ein anderer vor „Unentschlossenheit und Zaudern der Perestroika-Anhänger“ (Batkin 221).

Jenseits dieser taktischen Differenzen gibt es einige gemeinsame Forderungen:

1. Partei und Staat zu trennen, weil nur so eine politisch führende, weil auf Überzeugung bauende Rolle der Partei zu verwirklichen ist.

2. Rechtsstaatlichkeit als Unterwerfung aller unter das Gesetz. Das soll auch und besonders - fordert Andrej Sacharow - für den KGB gelten.

3. Koalitionsfreiheit, so „daß die Verwaltungsorgane die Entstehung von Organisationen lediglich zu registrieren, nicht aber 'zu erlauben‘ haben“.

4. Förderung der gesellschaftlichen Basisbewegungen, der politischen Klubs und Bürgerinitiativen, die in der Sowjetunion als informelle Gruppen bezeichnet werden.

5. Die Entfaltung eines wirklich freien Presse- und Verlagswesens.

Einige Autoren gehen noch weiter. Selbstverständlich taucht die Frage Ein- oder Mehrparteiensystem auf. Der junge Politikwissenschaftler Andronik Migranjan meint, ein Mehrparteiensystem sei den sowjetischen Bedingungen nicht angemessen. Er denkt statt dessen an organisierte Interessengruppen, die auf KPdSU und Sowjets Einfluß zu nehmen suchen. Diese Position hält Igor Winogradow, ein bekannter Literaturkritiker, für nicht konsequent genug: „Da wir heute schon die Realität des sozialistischen Pluralismus anerkennen, muß die Anerkennung dieser Realität unter den Verhältnissen der sozialistischen Demokratie unausweichlich bis zur Anerkennung der Notwendigkeit fortgeführt werden, diesen Pluralismus auch in politischen Formen zu verankern, und zwar in Übereinstimmung mit der realen Zusammensetzung unserer sehr mannigfaltigen sozialistischen Gesellschaft. Nur auf dieser Ebene übrigens werden wir echteGarantien für die Unumkehrbarkeit unserer Perestroika erlangen...“ (374)

Wer darin einen Verstoß gegen das marxistisch-leninistische Dogma von der „führenden Rolle der Partei“ sieht, dem antwortet Winogradow: Solche Leute argumentieren, „als ob die führende Rolle einer politischen Organisation ihrer automatischen, gesetzlich gesicherten Monopolstellung als bestimmte Struktur gleichkäme und nicht in einem freien politischen Wettstreit um das Vertrauen des Volkes erarbeitet und erobert werden müßte“. (375)

Wird - so fragt man sich - diese Politik darauf hinauslaufen, daß es zu einer Konvergenz der Systeme, gar zu einer Angleichung der Sowjetunion an westliche Demokratie kommt? Die klügere Antwort darauf hat Leonid Batkin gegeben. Er macht sich über die Beschränktheit der ideologischen Tugendwächter lustig: „Für die Beamten ist es zur Gewohnheit geworden, den 'Pluralismus‘ und die 'offene Gesellschaft‘ als Schreckgespenster vorzuführen. Jahrzehntelang haben sie uns eingebleut, daß dies subversive, vom Westen hereingetragene Begriffe seien.“ (227f.)

„Zum Glück wurde 'das Fenster nach Europa‘ bei uns vor fast drei Jahrhunderten durchgeschlagen...“ “...wir sind ebenfalls 'Westen'“ „der 'Westen‘ ist Ende des 20.Jahrhunderts kein geographischer Begriff und nicht einmal ein Begriff des Kapitalismus mehr... Das ist eine generelle Definition des wirtschaftlichen, wissenschaftlich-technischen und strukturell-demokratischen Niveaus, ohne daß die Existenz jeder beliebigen wirklich modernen und von Archaismus freien Gesellschaft nicht denkbar ist. (...) Ohne Pluralismus und Demokratie wäre die Entwicklung des Kapitalismus unmöglich. Das gilt genauso für die Entwicklung des Sozialismus. (...) ...ohne offene kulturelle Vielfalt ist heute die Wettbewerbsfähigkeit der sozialistischen Gesellschaft (...) mit dem europäischen 'westlichen‘ Kapitalismus einfach undenkbar. Eine solche Gesellschaft darf den Pluralismus, der auf kapitalistischer Grundlage entstanden ist, nicht abschaffen, sondern muß ihn mit allen Mitteln erweitern, muß den ausgezeichneten rechtlichen 'Formalismus‘ der westlichen Demokratie beibehalten und vertiefen, muß wie diese die Individualität und ihre Initiative, die Vielfalt der artikulierten Lebenselemente fördern. Und diese Vielfalt muß schließlich durch 'nur‘ einen einzigen, aber entscheidenden Unterschied in Sozialismus verwandelt werden, nämlich durch die Abschaffung der 'Macht des Geldsacks‘, des privaten Großkapitals.“ (228)

Juri Afanassjew (Hrsg.): Es gibt keine Alternative zu Perestroika: Glasnost, Demokratie, Sozialismus, Greno Verlag, 48 DM