REGIONALZUG WIEN - MÜRZZUSCHLAG

■ Eine fast schon historische Fahrt mit der Semmeringbahn

Wir haben für Sie von 6 bis 23 Uhr geöffnet“, versichert mir ein gelbes Schild in der Eingangshalle. Gezeichnet: Ihr Gastronom am Bahnhof. Es ist 10 Uhr 35, kein Grund zur Eile. Ich gehe auf das Restaurant zu. Es nennt sich „Ritter von Ghega“. Aber da hat es doch nicht für mich geöffnet, ich muß in ein kleineres Frühstückscafe daneben ausweichen. Das ist mir auch recht. Es heißt, in landesüblicher Verniedlichung: Semmering-Stüberl.

Wien, Südbahnhof. „Mürzzuschlag“ steht als Reiseziel auf meiner Fahrkarte. Doch der Weg interessiert mich mehr als das Ziel. Im Bummelzug aus Wien hinaus, durch das Wiener Becken, schließlich einen Gebirgspaß hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter: Die Semmeringbahn, ein Klassiker der Eisenbahnkultur seit 1854. Nicht von ungefähr heißt das Cafehaus im Bahnhof danach. Und der Ritter von Ghega war der Konstrukteur der berühmten Bahn, bevor er zum Namenspatron des Speiserestaurants aufstieg. Die Reise geht also schon los, bevor sie richtig anfängt.

Mein Gastronom am Bahnhof hat mittlerweile eine Melange abgerechnet, ich bin unterwegs nach Gleis 18. Dort steht der Regionalzug Wien - Mürzzuschlag, planmäßige Abfahr 11 Uhr 22. Natürlich bin ich viel zu früh. Aber im schönen Buch Über den Semmering von Wolfgang Kos (Wien 1984), dem ich mehr oder weniger nachreise, fand ich folgende Beherzigung aus einem Reiseführer des Jahres 1881: „Südbahnhof. Bei der Hinfahrt einen Platz links an einem Fenster, bei der Rückfahrt rechts an einem Fenster in Beschlag nehmen, der Semmeringstrecke wegen! Aus diesem Grund frühzeitig einsteigen!“

Die dramatischen Ausrufezeichen erweisen sich als übertrieben. Der Zug ist höchstens halbvoll, ich kann mich ohne Beschlagnahmungen auf einen Fensterplatz der linken Seite setzen und Zeitung lesen.

Irgendwann geht es dann los. Türen schließen automatisch. Vorsicht bei der Abfahrt. Der Semmering ist noch weit. Wir fahren durch Wiener Vorstädte. Häuserzeilen, Fabrikgebäude, lange Ausfallstraßen. Kurz hinter Wien-Liesing kommt der „Kontrollor“ vorbei. Er empfiehlt, in Wiener Neustadt umzusteigen. Es gäbe da einen schnelleren Zug. „Aber eigentlich habe ich es nicht eilig“, sage ich. „Sie sparen bestimmt eine halbe Stunde“, läßt er nicht locker. Es ist mir ein bißchen unangenehm, daß ich gar keine Zeit sparen will. „Ich möchte die Semmeringstrecke in aller Ruhe ausfahren“, sage ich, etwas verlegen. Da lächelt der Bahnbeamte. „Schön langsam?“ fragt er und scheint verstanden zu haben.

Der Zug hat Wien hinter sich gebracht. Weinberge, Schrebergärten, rechts im Hintergrund die Anhöhen des Wienerwaldes. 11 Uhr 49: „Gumpoldskirchen grüßt und ladet ein“: Ein weintrinkender König lächelt von einem Plakat. Hinter Leobersdorf ist ein kleiner Bach zum Wehr aufgestaut, in Theresienfeld, 12 Uhr 17, beschwert sich eine ältere Dame darüber, daß der Zug so langsam fährt. „Wieso?“ fragt ihr Mann zurück, und sie wechselt das Thema.

Ich lese Zeitung, höre mit halbem Ohr den Gesprächen zu, nehme beiläufig wahr, was draußen am Fenster vorbeizieht. Eine Überlandpartie der angenehmen Art. „Private Volksschule für Begabte“, steht in großer Schrift auf einem kleinen Haus, dann fährt der Zug im Bahnhof ein. Das erste Etappenziel ist erreicht, es ist 12 Uhr 25.

Wiener Neustadt. Schülerinnen nehmen das Abteil in Beschlag. Eine hat gedacht, daß sie einen Dreier schreibt, aber jetzt hat sie doch einen Vierer gekriegt. Eine andere beißt in eine krümelnde Topfengolatsche. Auf bundesdeutsch hieße das Quarktasche. Dabei liest sie aus dem 'Bravo' -Kalender '88 vor. Wer ist dein Lieblingspopstar außer Michael Jackson? Zwei Bahnsteige weiter rechts fährt der Expreßzug Graz - Bruck an der Mur - Wien ein. Er heißt Ghega.

Da wissen wir wieder, warum wir unterwegs sind. Als Teilstück der großen Südbahnstrecke Wien - Triest war die Semmeringbahn schon seit 1842 geplant. Aber die Geländebedingungen stellten große Probleme. Erst sechs Jahre später begannen die Arbeiten. Unter Ghegas Leitung wurden 16 Viadukte gemauert, 15 Tunnels gegraben, 42 Kilometer Schienen verlegt. 17.000 Arbeiter beschäftigte der Bau im Laufe der Jahre, ungefähr 1.000 kamen dabei ums Leben. Solche Geschichten tragen zur Romantik der Semmeringbahn bei. Bei Wolfgang Kos kann man sie nachlesen.

12 Uhr 46. Der Zug fährt weiter. Noch immer beherrschen Schülerthemen das Abteil. Kennst du schon das neue Make-Up -Lexikon? Das Fräulein von Scuderi ist ein Blödsinn. Hinter Neunkirchen rückt schließlich das Semmering-Massiv ins Blickfeld. Breit liegt es da. Auf den Höhen noch ein paar Schneeflecken.

Die Schülerinnen steigen aus, eine nach der anderen. St.Egyden, Ternitz, Pottschach. Schließlich, 13 Uhr 11, Gloggnitz. Hier begann der Bau der Semmeringbahn, 1848. Unter anderem auch als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Wiens revoltierende Arbeiterschaft. Fernab der Großstadt sollten sie sich steineklopfend beruhigen.

Ich bin jetzt fast allein im Abteil. Allmählich ist die Steigung zu spüren. Der Zug scheint bei jeder Anfahrt ein wenig zu zögern. Auf einer gemauerten Rampe fährt er am Berg entlang in ein Tal. Rechts Berg, links Tal. Nicht grundlos wurde der Platz am linken Fenster empfohlen.

Die Umgebung wird ländlich. Aber in die Einsamkeit geht die Reise durchaus nicht. Payerbach-Reichenau: Ein kleiner Ort, ein großer Bahnhof. Im Gefolge der Bahn zog im 19.Jahrhundert eine mondäne Gesellschaft hierher. Hotels, Villen, Kurparks und Spielkasinos wurden gebaut. Sogenannte erste Kreise, vor allem aus Wien, verbrachten hier Weekends und Sommerfrischen. Das berühmte „Hotel Thalhof“ in Payerbach bot „Dejeuners, Diners und Soupers a la Carte und per Couvert in exquisiter Ausführung zu mäßigen Preisen.“ Arthur Schnitzler, Peter Altenberg und Sigmund Freud zählten zu den Sommergästen.

Der Thalhof wäre noch immer zu besichtigen. Aber mein Zug fährt weiter. Er biegt in die weite Linkskurve ein, die auf das erste große Viadukt und damit auf den eigentlichen Paß hinführt. Da erinnert sich der Kontrollor an mich und weist auf die einzige Sehenswürdigkeit rechterhand hin: Schneeberg und Rax, die beiden höchsten Punkte der Gegend, begrenzen malerisch den Blick. Solche Szenerien vor dem Zugfenster haben sich nicht etwa zufällig ergeben. Sie wurden durch geschickte Streckenführung hergestellt. Die Bahnlinie gliedert und inszeniert die durchquerte Landschaft. Eine schöne Aussicht reiht sich an die andere. Dafür nahm man sogar Umwege in Kauf. Die Semmeringbahn war immer Verkehrsverbindung und Touristenattraktion zugleich.

Heute ergänzen sich die Konzepte der Verkehrsplaner und das Glück des Reisenden nicht mehr so harmonisch. „Hier wollen sie jetzt irgendwo das Loch machen“, sagt der Bahnbeamte plötzlich und deutet ins Gelände. Ein Tunnel soll nämlich die Gebirgsbahn ersetzen. „Und was wird mit der alten Bahn?“ frage ich. Darüber sei noch nichts entschieden, meint der Schaffner. Vielleicht fährt sie als Museumsbahn für Touristen weiter, vielleicht wird sie aus Kostengründen stillgelegt.

Sicher aber ist, daß eine Unterführung gebaut wird. Nach Meinung der Wiener Fachzeitschrift 'Eisenbahn‘, die den Bau befürwortet, sind allenfalls noch Details der Streckenführung verhandlungsfähig, nicht aber der Bau an sich. Er ordnete sich nämlich ein in die Konzeption einer landesweit „neuen Bahn“: Österreich will auch nicht langsam sein, wenn anderswo überall die Grand-Vitesse-Trassen aus dem Boden sprießen. Am 6.Mai 1988 erklärte Österreichs Verkehrsminister Streicher seine „Neue Bahn“ auch den Anwohnern des Semmeringsgebiets in einer Bürgerversammlung. Er stieß auf den harten Widerstand von vier „Anti -Eisenbahntunnel-Komitees“. Der nostalgische Eisenbahn -Tourist wünscht diesem Widerstand Erfolg, sieht aber trotzdem die Semmeringbahn schon mit einem Abschiedsblick an.

Hinter Eichberg geht es nun gewaltig bergauf. Reichenau liegt plötzlich tief unten, ebenso die Strecke, auf der man gerade noch fuhr. Die Bahn präsentiert nämlich nicht nur die Landschaft, sondern auch sich selbst. In Schleifen geht es bergauf. Die überquerten Viadukte kann man wenig später von oben besichtigen. Dieser Effekt wirkt besonders stark, wenn ein Zug aus der Gegenrichtung kommt. Mehrmals sieht man ihn wieder, bis er schließlich, klein wie eine Märklin-Bahn, verschwindet.

13 Uhr 36: Bahnhof Klamm-Schottwien. Die Burgruine Klamm in Bahnhofsnähe wurde schon immer wohlwollend aufgenommen. Mittelalter und Neuzeit auf einen Blick - das liebte man im 19.Jahrhundert. Die Ortschaft Schottwien, tief unten im Tal, war eine Mautstation am alten Semmeringpaß, der viel älter als die Bahn ist. Er ging bergauf und bergab, fügte sich den Vorgaben der Landschaft. Heute geht hoch über die Dächer der Ortschaft eine Autobahnbrücke hin. Sie ist noch im Bau, aber zeigt schon unmißverständlich, daß sie den Verkehrsfluß auf einer zeitsparenden Geraden über den Semmering zu führen gedenkt.

Die Bahn schlängelt sich auf Rampen, Tunnels und Viadukten am Talrand aufwärts. Verglichen mit der alten Paßstraße war sie auch schon ein massiver Eingriff in die Landschaft. Im technischen Museum in Wien sind Photos von den riesigen Schutt- und Geröllhalden zu sehen, die der Bau der Semmeringbahn hinterließ. Aber im Gegensatz zur Autobahn hoch oben und dem Tunnel tief unten inszenierte die alte Bahnlinie doch sehr bewußt ein Naturschauspiel.

Seinen Höhepunkt erreicht dieses Schauspiel im nächsten Streckenabschnitt. Graue, zackige Felsen umstellen die Trasse. Tunnels lösen Viadukte ab. So entstehen Hell-Dunkel -Effekte. In der Galerie der Weinzettelwand beschleunigt sich der Wechsel von Hell und Dunkel. Sekundenkurze Durchblicke wechseln mit ebensolchen Finsternissen. Dieses Lichtspiel war früheren Reisenden eine Quelle wollüstigen Entsetzens. Uns mutet heute jeder Film härtere Schnitte und Beleuchtungswechsel zu, ohne daß wir uns erschrecken.

Am Ende dieser wahrnehmungsgeschichtlich bedeutsamen Passage hält der Zug an der Station Semmering. Der höchste Punkt. Rechts der Bahnhof, dahinter steigt der Berg nach oben. Von der Bergwand schaut, diesmal als Relief-Medaillon, wieder der Ritter von Gegha ins Abteil. Spazierwege verlieren sich in verschiedene Richtungen. Vor dem Bahnzeitalter waren hier nur ein paar Hütten. Um die Jahrhundertwende aber entwickelte sich Alt-Österreichs exklusivste Grand-Hotel-Kultur. Südbahnhotel, Hotel Panhans: allerfeinste Adressen in den zehner und zwanziger Jahren. Aber die chicen Tage des Semmering sind vorüber. Spätestens im Zweiten Weltkrieg war der fashionable Reiz dahin. Die Bahn hat den alten Semmering-Tourismus ermöglicht. Seinem Niedergang folgt sie wohl demnächst, in schicklichem Abstand. Das Hotel Panhans wurde vor einigen Jahren wieder eröffnet. Es liegt an der Semmeringhöhenstraße. Die heutigen Gäste kommen mit dem Auto. Das Südbahnhotel aber steht leer und verfällt. So weht hier auch ein feiner Hauch der Decadence, als wollte die alte Bahn im Moment ihres Verschwindens noch einmal besonders schön sei, könnte es aber nicht mehr so recht.

Um 13 Uhr 53 verläßt mein Zug den Bahnhof und rollt durch den Haupttunnel: 1.430 Meter lang. Bis Mürzzuschlag ist es danach nicht mehr weit. Die geplante Unterführung wird hier wieder auf die alten Schienen stoßen.

Wenn die Züge nicht mehr über den Berg müssen, so die Zeitschrift 'Eisenbahn‘, werden sie 20 bis 30 Minuten gewinnen. Das mag sein. Aber dieser Zeitgewinn wird teuer bezahlt, denke ich mir. Die heikle Balance zwischen Natur, Technik und Kultur, die hier einmal gelungen war, wird gestört. Tief unten fahren die Züge, ganz oben die Autos. Und dazwischen verliert eine schöne Konstruktion ihren Sinn, selbst wenn man eine Museumsbahn weiterlaufen ließe. Ich finde nicht, daß eine halbe Stunde Fahrzeitverkürzung dafür auf Dauer entschädigt.

Meine Reise ist hier zu Ende. Ich trete in Mürzzuschlag auf den Bahnsteig, es ist 14 Uhr 7.

Hermann Schlösser