SGUARDO SU BERLINO

■ Italienische Gäste sehen Berlin

Berlino-emozioni: so nannte Pier Vittorio Tondelli 1985 seine Berlin-Reportage. Die Texte, die Barbara Brunn und Birgit Schneider in ihrer Anthologie Direttissimo Roma Berlin (Das Arsenal, Berlin) zusammengestellt haben, könnten alle so heißen. 27 italienische AutorInnen beschreiben hier die „emozioni“, die Berlin hervorruft. Auf das Bekannte fallen dabei fremde Blicke.

Schon das Essen löst bei den italienischen Gästen oft schwere Verstörungen aus. Sergio Staino zeichnete 1980 das Entsetzen angesichts einer Currywurst, das auch durch die Kellner-Frage „Mit Ketchup?“ nicht gemildert wird. Und Pietro Solari schilderte 1932 entgeistert einen „gekochten Schweinsfuß mit Kartoffel- und Erbspüree“, der, „getränkt in Mostrich“, in „einem einzigen Magen“ verschwindet, während er in Italien eine ganze Familie ernährt hätte.

Angenehmer sind die Hotelbetten, von denen Carlo Levi schwärmte. Als „kindliche, mütterliche Schlupfnester“ gehören sie schon fast in die Sphäre deutscher Dichtung, mit der die Reisenden meist gut vertraut sind.

Giuseppe Antonio Borgese, Berliner Korrespondent für 'La Stampa‘, las 1906 Goethe und erschrak vor den lockeren Manieren der Berlinerinnen: „Heute würde niemand den Faust schreiben, denn Gretchen wirft sich von sich aus in die Arme des kleinen Doktors in spe...“

Die freiere Sexualmoral ist auch anderen Reisenden bis heute immer wieder aufgefallen. Aber Borgeses rückwärtsgewandter Blick wich bald dem Interesse am Modernen. Marinetti und Boccioni, zwei Wortführer des Futurismus, trafen 1912 Herwarth Walden und Alfred Döblin in Berlin. 1947 drehte Roberto Rossellini hier den Film Die Stunde Null, weil er „überwältigt“ war von der „fast krankhaften Dissonanz dieser Stadt“. Später wurden Mauerbau, Studentenrevolte und Alternativkultur beobachtet und in Artikeln und Erzählungen kommentiert.

In der Anthologie stehen diese (durchweg gut übersetzten) Texte nicht kommentarlos hintereinander. Die Herausgeberinnen haben Informationen über die AutorInnen dazugegeben: Anekdoten, Biographisches, Interviews. In einem dieser Interviews sagte Luce d'Eramo, die in Berlin ihren Roman Gruppe Zero schrieb: „Die unruhige Atmosphäre und die kulturelle Intensität, das stimuliert natürlich.“

Ähnliche Äußerungen zitiert das Buch von Luigi Nono, dem Komponisten, von der Schriftstellerin Fabrizia Ramondino und dem Germanisten Claudio Magris. Aber indirekt bestätigen alle Texte der Sammlung die Faszination, die von Berlin ausgeht.

Berlino-emozioni: Für italienische Intellektuelle ist Berlin immer ein wichtiger Bezugspunkt gewesen. Was sie dort gefunden haben, ist genauso interessant wie die Entdeckungen deutscher Reisender in Italien. Wer das noch nicht wußte, kann es jetzt durch die schöne Anthologie von Barbara Brunn und Birgit Schneider erfahren.

Hermann Schlösser