Sizilien im Frühjahr

Gerald Linczak SIZILIEN IM FRÜHJAHR

Die Morgensonne wärmt schon ein wenig, und im leichten Wind läßt sich eine Ahnung von dem erschnuppern, was die Zypressen und Pinien ringsum im Sommer an Düften bieten würden. Es ist Anfang April, und ich freue mich an der Einsamkeit, in der ich hier im Gartencafe des Giardino pubblico von Taormina meinen Morgenkaffee schlürfen kann. Ein idyllischer Flecken, um mich herum Blüten und Bäume, Büsche und diese wuchernden Kakteen, von denen man die Kaktusfeige erntet. Direkt hinter dieser Terrasse fällt der Fels Hunderte Meter steil ab und endet in einem schmalen Ufersaum, der nur Platz für wenige Meter Strand, ein Eisenbahngleis und eine Straße läßt. In der Blickrichtung von meinem Platz aus verbreitert er sich zu dem Ort Naxos, der nur noch in seinem Namen an die griechische Gründung erinnert und ansonsten ein reiner Badeort ist.

Natürlich ist Taormina nicht so leer und ruhig wie dieses Straßencafe, wohl zu keiner Jahreszeit. Aber jetzt im Frühjahr - und wahrscheinlich bis in den Juni hinein - kann man gut Distanz halten zu irgendwelchen drängelnden und schiebenden Menschenmengen.

Wenn mir früher jemand sagte, er mache Urlaub auf Sizilien, nein, die sagten gleich, daß sie Urlaub in Taormina machten, dann habe ich nur säuerlich grimassiert. Ich wußte - woher eigentlich -, wie es dort war: Touristen über Touristen, die dort die Straßen verstopften, die lärmend den übelsten aller Deutschen auslebten und in Nepplokal auf Nepplokal ihre Lirescheine ließen.

Aber ich hatte schon lange Jahre nach Sizilien gewollt, die Insel am liebsten von Palermo aus entdecken wollen, das mir das authentischere und interessantere Sizilien erschließen sollte. Nur hatte ich auch jetzt weder viel Geld noch viel Zeit. Da blieben nur die Chartergesellschaften, und die fliegen eben nicht nach Palermo, sondern nach Catania, mit Unterkunft in Naxos oder Taormina. Außerdem sollte mir Taormina im wesentlichen Unterkunft bieten, ansonsten wollte ich umherfahren, um Sizilien dann doch meinen Erwartungen gemäß kennenzulernen. * * *

Was waren das für Erwartungen? Ich bin schon häufig in der oberen Hälfte Italiens gewesen, Rom aufwärts; im Süden schon mal bis Neapel, aber der gesamte Mezzogiorno ist mir unbekannt. Dazu schwirren mir Fetzen im Kopf herum von Korruption und nicht angekommenen Hilfen, von Aufbauprogrammen, von Armut und verbrannter Erde. Christus kam nur bis Eboli, den Film haben viele gesehen, manche haben das Buch von Levi gelesen.

Ähnlich ungenaue Schlagworte haben sich in mir auch zu Sizilien angesammelt. Die Insel ist nicht der Mezzogiorno, zu vielerlei gab es dort, ganz eigene Entwicklungen, vielen Sizilianern noch nicht eigen genug, aber auch hier Unterentwicklung, Armut, Arbeitsemigration, Korruption. Und die Mafia, aber dies Phänomen hatte mit meinem Reisewunsch nichts zu tun, denn ich war mir sicher, daß ich als Tourist in keiner Weise auf die Mafia stoßen würde. Darüber konnte ich mich bestenfalls belesen, zum Beispiel in den Büchern Leonardo Sciascias, die mir als Außenstehendem allerdings auch nicht viel mehr als eine Ahnung vermittelt haben. Möglicherweise bildet sie für manchen Reisenden einen zusätzlichen Anreiz, so ähnlich wie für einen Rumänienreisenden, der auch Transsilvanien besucht, die Geschichten über einen Grafen Dracula.

Daneben war in den letzten Jahren in mir eine durch antike griechische Überreste strukturierte Landkarte entstanden, aufgefüllt mit vagen Vorstellungen einer sehenswerten Landschaft, beleuchtet von Europas südlichster Sonne, die mich schon im Frühjahr wärmen würde. Ich weiß nicht, wie sich andere für eine bestimmte Reise entscheiden, wenn sie nicht nur Sommer, Sonne, Meer und abends gutes Essen und viel Wein suchen, wozu der gesamte Mittelmeerraum gleichermaßen geeignet ist. Ich wähle mir kulturelle Fixpunkte, Denkmäler, steinerne Geschichte, selbst wenn sie während einer Reise dann gar nicht im Vordergrund stehen. Aber es beruhigt mich, wenn ich solche Angelpunkte habe, die Ausgangspunkt dafür sein können, mit einem Land bekannt zu werden. Im Falle Siziliens sind dies römische und besonders griechische Überreste, die allerdings für die Sizilianer offenbar auch keine andere Funktion haben als für die Reisenden (touristische Schauobjekte eben). Nur selten waren sie Ausgangspunkt weiterer, womöglich bis heute andauernder Entwicklungen, sondern befinden sich eher am Rande oder gänzlich außerhalb heutiger Siedlungen. Eines der wenigen Gegenbeispiele ist Syrakus, eine griechische Gründung, wo ein früherer Tempel architektonisch zu einem katholischen Dom konvertierte unter Einbezug der griechischen Säulen für das Längsschiff. * * *

Zunächst einmal kam ich mit bangen Erwartungen in Taormina an. Was ich sah, nahm mich aber sofort ein. Die Landschaft ist einfach schön und beeindruckend. Früher haben die Reisenden beim Schauen sicherlich geseufzt vor Behagen. Ich tat das still in mich hinein. Der Ort liegt in Hügel und Fels gebettet und bietet Blicke hinab auf die Buchten um Naxos und Mazzaro, dazwischen auf einem Fels das griechische Theater. Im Rücken der Stadt ein Dorf auf einer Hügelkuppe, ein verfallenes Kastell auf einer anderen. In der Ferne der alles beherrschende Ätna, schneebedeckt. Überall die mediterrane Blütenpracht in grellbunten Farben, Palmen und Kakteen. Niedrige grüne Vegetation bedeckt die Hügel und bringt jede Furche und jede Verwerfung plastisch hervor, ganz anders als an verkarsteten Küsten, wo das zerklüftete und löchrige Kalkgestein einen eher flachen, jedenfalls wenig körperhaften Eindruck vermittelt. Ich sehe mich nicht als nach Natur lechzenden, unermüdlichen Wanderer, der unablässig juchzend durch die Schöpfung ausschreitet, aber diese Landschaft zog mich sofort an, ich wollte nah an dem sein, was ich aus der Ferne sah, um in der Weite das zu sehen, wo ich herkam.

Der ungeplante Drang, umherzulaufen, bewies mir zwar meine offenbare Flexibilität in der Urlaubsgestaltung, dafür dachte ich zunächst nicht mehr daran, daß das pittoreske und reiche Taormina nicht Sizilien war. Die Stadt lebt für den Tourismus, und sie lebt gut davon. Das Preisniveau ist sicher eines der höchsten auf der Insel, die Einheimischen laufen gut gekleidet umher, Armut wird nicht sichtbar. Die kurze Flugzeit von zweieinhalb Stunden ab Düsseldorf hatte bei mir noch dazu beigetragen, daß ich in Taormina den Eindruck hatte, Menschen und Lebensart unterschieden sich kaum von denen Norditaliens. Dieser Eindruck läßt sich vielleicht durch ganz Sizilien tragen, wenn man neben dem pauschalen Flug- und Hotelangebot die vor Ort angebotenen Pauschal-Busausflüge wahrnimmt, mit denen man in Tagestouren nach und nach ganz Sizilien kennenlernen kann bis hin nach Palermo. Wenn man denn glaubt, so mit einem Land bekannt zu werden.

Für den, der auf eigene Faust herumkommen will und dabei das feste Quartier in Taormina hat, kommt zunächst irgendwann die Erkenntnis, daß der persönliche Radius für Tagestouren sehr beschränkt ist, vielleicht nur 150 Kilometer, manchmal noch weniger. Dafür gibt es dann Einblicke in eine Seite der Sizilianer, in ihr Tempo. Zunächst hatte ich mit meinem mitgebrachten Tempo Schwierigkeiten. Ich wollte Sizilien ganz individuell angehen und hatte das Gefühl, man ließ mich nicht. Die Neigung kam in mir hoch, die Infrastruktur als gegen mich gerichteten Affront zu begreifen, in der Art: Ich bin offen für Land und Leute, will mich ums Verstehen bemühen, und da wird es jedem Neckermann einfacher gemacht als mir. Diese Illusion, ich wäre der wertvollere Reisende, spukt mir aus Zeiten im Kopf herum, als sich bestimmte Leute, darunter auch ich, als Alternativreisende verstanden. Die Alternative bestand vermutlich nur in den geringeren Bedürfnissen und einer gewissen Kopflastigkeit, die dem Vergnügen ein schlechtes Gewissen zugesellte. Doch dann war ich eigentlich froh, daß wenigstens hier noch nicht deutsche Ordnungsvorstellungen vorgedrungen waren, die doch nur dazu führten, daß einem der Busfahrer die Tür vor der Nase verschloß, weil der Fahrplan die Abfahrt vorschreibt. * * *

Verspätungen sind Bestandteil des Systems, denn Siziliens Eisenbahnen fahren nur in einer Spur für beide Richtungen. Nur die ersten Male wanderte ich nervös auf der Plattform umher. Wenn man aufhört sich zu sträuben, vermittelt die Zuverlässigkeit des „in ritardo“ entspannte Ruhe, Zeit für einen Espresso oder auch zwei, Zeit für die Tageszeitung. Eine Bahnlinie zieht sich um den Ätna. Eine empfehlenswerte Tour. Durch fruchtbares Land, an Obstplantagen vorbei direkt in eine öde Landschaft, die von meterhoher, verwitternder Lava bestimmt wird. Eine Reise wie ein aufgeblättertes Lehrbuch. Betonbauten in allen Baustadien zeigen in der Lavawüste an, daß die staatliche Hilfe fünf Jahre nach dem letzten Ausbruch wohl doch seit kurzem, wenn auch vielleicht nur zum Teil, ihr Ziel erreicht hat. Häßliche Einheitsmiethäuser zuhauf, Stahlbetonskelette, ausgefüllt mit Hohlziegeln, den Luxus von Verputz und Farbe scheinen viele sich vorerst nicht zu erlauben. Fürs Auge ein Greuel, die Bewohner werden erst beim Bewohnen darauf kommen, was ihnen an Lebensqualität zerstört wurde. Möglicherweise kann nur ein Fremder auf die Idee kommen, landschaftsgerechtes und die Traditionen berücksichtigendes Bauen zu fordern, wo man hier nackten Bedürfnissen gerecht werden soll. Neben der Notwendigkeit, auch wegen größerer Erdbebensicherheit, habe ich aber doch den Verdacht, daß diese Betonbauweise eben praktischer und billiger ist und andere Kriterien zurückgestellt werden. Viele Häuser sind zu sehen, wo zunächst nur zwei Geschosse ausgebaut wurden, die Möglichkeit jedoch offengehalten wird, bei größerem Platzbedarf oder bei erneut zusammengespartem Kapital weiter aufzustocken. Auf den Flachdächern standen in Verlängerung der Vertikalpfeiler die Stahltrossen bis zu einem Meter rostig hervor.

Durch einen zufällig gewählten Zwischenstopp in einer der Kleinstädte rund um den Ätna traf ich dann doch auf ein anderes Sizilien, das Städtchen Adrano zeigte mir ein rückständiges und armes Sizilien, etwas ganz anderes als die vom Tourismus gepäppelte Schauseite entlang der Küste der Insel. Hier gab es keinen Putz. Für welche Besucher denn auch. Außer einem normannischen Stadtkastell gab es keinen geschichtsträchtigen Stein, der Reisende hätte anlocken können. Der Verfall in den Straßen, an den Häusern, zeigte mir, daß die Stadt ihre beste Zeit lange hinter sich hatte. Mit steigendem Unbehagen spazierte ich umher, Frauen in Witwenschwarz saßen einzeln oder in kleinen Gruppen vor den Häusern und starrten mich an. Schmuddelkinder unterbrachen ihre Spiele und guckten nach mir. Als ich später an einem größeren Platz auf den Bus nach Catania wartete, starrte jeder vorbeikommende Autofahrer in meine Richtung. Ihnen allen war das Unverständnis, im besten Fall die Neugierde darüber anzusehen, was ich wohl dort wollte. Die Umkehrung des üblichen Reiseziels: Hier wies alles plötzlich auf mich, machte mir meine Rolle als touristischer Gaffer unangenehm deutlich. * * *

Bewußt war ich bisher noch nie in arme Entwicklungsländer, nach Afrika oder Asien, gereist. Mir ist der Widerspruch unlösbar, als Reisender in einem solchen Land den Menschen gerecht zu werden. Der Status, den man da mitbringt, steht dem Erkennen entgegen. Daran mußte ich in Adrano denken. Diese Stadt hat vermutlich keine Zukunft, aber ihre Bewohner träumen vielleicht von einer besseren Zukunft, und manche erreichen sie, indem sie fortgehen. Dies hier sei das wahre Sizilien, sagte mir in einem Zufallsgespräch ein wohlhabend aussehender, etwa 50 Jahre alter Mann, der in Adrano geboren wurde und in Catania als höherer Angestellter bei Alfa Romeo arbeitete. Hier fänden sich noch die alten Traditionen und Dialekte, die von Stadt zu Stadt variierten. Der Stolz auf seine Heimat war unüberhörbar, genauso aber der Stolz auf das, was er anderswo, in Catania, erreicht hatte, unübersehbar. Wie lange werden sich die Traditionen, die immer an Rückständigkeit und Armut gekoppelt erscheinen, noch erhalten? Diese Städte und Dörfer werden auf Dauer verschwinden, oder die Entwicklung wie an den Küsten wird sie irgendwann erreichen. Europa wird immer kleiner, der Austausch an Gütern, Normen und Know-how, an allgemeinen Informationen führt überall zu Verlusten an Individualität und Substanz. Eine paradiesische Landschaft, eine eigenständige Architektur, eigene Lebensart erlebe ich auf Sizilien. Aber warum sollten Sizilianer Betonbauten nicht praktischer finden, warum sollten sie nicht versessen sein auf amerikanische Videos und Fast Food? Warum sollten sie in der mir angenehmen Ursprünglichkeit und Natürlichkeit verharren, was hätten sie daran? So sehe ich neben der beeindruckend schönen Landschaft immer wieder Brüche, wo mir allzu Bekanntes begegnet, das Einerlei der westlichen Zivilisation. Aber das ist mein Problem als Reisender. * * *

In einer Seitenstraße stieß ich auf die „Opera dei Pupi“, das sizilianische Marionettentheater, das in mittlerweile immer weniger Orten eine Tradition des letzten Jahrhunderts fortführt. Dargestellt werden darin Legenden um Karl den Großen und Teile aus dem Rolandlied, die seit der Besetzung Siziliens durch die Normannen und die Herzöge von Anjou bekannt waren. Ich hatte allerdings mehr den Eindruck, daß diese kriegerischen Taten nur den Vorwand für ein derbes Volksvergnügen liefern sollten. Die schwerfälligen, anderthalb Meter großen Puppen betraten blechrasselnd die Bühne, um übereinander herzufallen, Köpfe reihenweise abzuschlagen und über verborgen angebrachte Schläuche eindrucksvoll Blut hervorzuspritzen.

Wie aktuell derlei blutrünstige Szenen sind und wie wenig ein Tourist vordringt unter die Oberfläche dessen, was er sieht und sehend interpretiert, zeigte mir eine Meldung des 'Corriere della Sera‘. In seinem Landhaus bei Enna wurde der Boß Salvatore Scalisi mit der traditionell bei Mafiamorden bevorzugten Lupara, einer doppelläufigen abgesägten Flinte, ermordet. Er stammte aus Adrano, jener Kleinstadt, die ich als so runtergekommen und vergessen empfunden hatte. Hier hatte Scalasi bereits eine bedeutende kriminelle Vergangenheit aufzuweisen. Offenbar war er dabei gewesen, das Erbe seines Vaters, der vor sieben Jahren als einflußreicher Landpatriarch ermordet worden war, zu erkämpfen. Wie der 'Corriere della Sera‘ weiter schreibt, tobt schon seit Jahren der Bandenkrieg um Adrano, zahlreiche Angehörige der verschiedenen Clans wurden bisher ermordet, so daß es wahrscheinlich ist, daß Scalisi Opfer dieser Fehde wurde.

Der italienische Tourismus-Minister äußerte auf einer Fachmesse sinngemäß, daß die Mafia den Tourismus auf Sizilien respektieren würde.