Der neuralgische Punkt

■ Die Studenten in Peking fordern politische Reformen

Pekings Studenten demonstrieren wieder. Für chinesische Verhältnisse eine völlig neue Qualität stellten die Versuche dar, die Volkskongreßhalle am Tiananmen-Platz zu stürmen. Steht die Volksrepublik an einem neuen Kreuzweg? Ähnlich wie im April 1976, als große Demonstrationen auf dem Tiananmen -Platz das Ende von Viererbande und Kulturrevolution einleiteten? Oder wie zur Zeit der 4.Mai-Bewegung 1919, die dem feudalen System einen Stoß versetzte und den Auftakt zur Revolution bildete?

Zentrale Forderungen damals waren „Wissenschaft und Demokratie“. Bis heute blieben sie uneingelöst. Es ist kein Zufall, daß Chinas Studenten den plötzlichen Tod Hu Yaobangs für ihre Forderungen nutzen möchten. Fang Lizhi, Chinas bedeutendster Dissident, hat die Zeit des Parteivorsitzes von Hu Yaobang zwischen 1981 und 1987 als beste Zeit für Chinas Intellektuelle seit 1949 bezeichnet. Hu Yaobang stürzte über die Studentendemonstrationen Ende 1986/87, für die er - so der Vorwurf - den liberalen Nährboden geschaffen haben sollte. Während die politischen Strukturreformen stagnieren, hat sich seit Ende September letzten Jahres die Wirtschaftskrise in China vertieft. In vielen Provinzen ist das wirtschaftliche Wachstum bereits beträchtlich zurückgegangen. Gleichzeitig bestätigte der Volkskongreß ein staatliches Sparprogramm. Während Teile der Großstadtbevölkerung Lohneinbußen hinnehmen müssen, wächst der Unmut über bürokratische Privilegien. Forderungen der Studenten nach mehr Geld für die Bildung, nach Publikationsfreiheit und vor allem nach Offenlegung der Konten hoher Funktionäre sind sehr populär.

Erneut haben die Pekinger Studenten den neuralgischen Punkt der chinesischen Reformpolitik getroffen: Ohne durchgreifende politische Reformen ist langfristig keine umfassende Wirtschaftsreform möglich. Es wird spannend werden, wenn sich Gorbatschow und Deng Xiaoping im Mai in Peking treffen.

Helmut Forster-Latsch