"Wir waren wie die Tiere im Zoo"

ESSAY „Wir waren wie die Tiere im Zoo“

Von Jeremy Seabrook

Hillsborough - da haben wir einen weiteren jener Ortsnamen, die den inzwischen schon recht umfangreichen Katalog vergeudeten Lebens füllen. Schon spricht man davon, aus Hillsborough müßten „Lehren gezogen“ werden; aber wären die Lektionen Bradford, Heysel, Manchester und „Herald of Free Enterprise“ auch nur zur Hälfte beherzigt worden, dann hätte diese grausame Heimsuchung vermieden werden können.

Gemeinsam ist all diesen Ereignissen, daß sie entstanden, weil Menschen durch Raum und Zeit gelotst werden, damit sie Sensationen der Unterhaltungs-, Urlaubs- oder Sportindustrie erleben können; so geraten sie in den Bannkreis der Wirtschaft in ihrer wohlwollendsten Erscheinungsform - der der Freizeitgesellschaft. Und es zeigt sich, daß deren zentraler Zweck in der Notwendigkeit liegt, aus den Menschen so viel Geld zu pressen wie nur irgend möglich - in diesem Falle, indem sie sie dafür bezahlen ließen, zwei Stunden lang in Gebilden zu stehen, die man nur als überfüllte Käfige bezeichnen kann. Diesmal bestand für einige der Preis in ihrem Leben.

Weil diese Erfahrungen als Vergnügen gelten, fällt es leicht, die Gefahren zu ignorieren - ob diese nun aus der Verwendung ungeeigneten Materials bei der Konstruktion von Flugzeugsitzen, unsicheren und überladenen Fähren oder auf Fußballplätzen entstehen, die sich als Todesfallen erweisen.

Erst wenn etwas schief geht, erhalten wir eine tiefere Einsicht in den wahren Wert, den die Lieferanten von Unterhaltung, Zerstreuung und Vergnügen dem menschlichen Leben beimessen.

„Wir waren wie die Tiere im Zoo“, sagte ein Mann hinterher. In diesem Zoo gab es in erster Linie elektronische Zuschauer: Die Kameras der Medien, die Videokameras und Computer der Polizei stehen für eine ungeheure Investition in das Drum und Dran der Überwachung; sie zeichnen jeden einzelnen entsetzlichen Augenblick auf, aber zur Hilfe können sie absolut nichts beitragen.

Welch ein Gegensatz zwischen diesen verschwenderischen Ausgaben und dem Fehlen lebensrettender Ausrüstung. Die anwesenden Ärzte sagten aus, daß es kein Blutplasma gab, daß für die Sauerstoffzelte kein Sauerstoff vorhanden war; aber die Medien-Apparatur bot die Gewähr, daß sich das Fußballspektakel schnell in ein ganz anderes Spektakel verwandeln ließ.

Das Blutbad - die übertriebene Floskel der Fußballberichterstattung wurde auf erschreckende Weise wahr

-wirft überaus politische Fragen auf. Wer darauf besteht, das Ereignis als göttliche Heimsuchung zu begreifen, als eine Art naturgegebene Tragödie, verrät nur sein Interesse an der Vertuschung. Gerade das öffentliche Zurschaustellen humanitärer Betroffenheit maskiert nur deren völliges Fehlen, wenn es um die wichtigere Frage geht, wie die willkürliche Verschwendung jungen Lebens zu verhindern wäre.

Fußball ist in unserer Gesellschaft vielleicht das letzte Erlebnis, bei dem Leidenschaft - noch dazu: parteiische Leidenschaft - mit im Spiel ist. Nichts ist weiter entfernt von den anderen charakteristischen Massenszenen unserer Gesellschaft: Die Menschen, die sich durch die Einkaufsstraßen schieben, regulieren sich selbst; sie interessieren sich nur für das Verhältnis zwischen individuellem Wunsch, Geld und dem Preis des ersehnten Gegenstands; Fußball hat auch keine Ähnlichkeit mit den Pop -Konzerten, bei denen sich der gemeinsame Brennpunkt kathartischer Empfindung auf eine einzelne Person richtet; sie drücken sich konfliktlos aus.

Nur noch im Fußball gibt es außerdem die einzigartige Leidenschaft der Identifikation mit Orten, die früher für mehr einstanden als nur Fußballmannschaften. Daß Liverpool zweimal in solch unerträgliche Geschehnisse verwickelt war, ist vielleicht kein reiner Zufall. Denn die große Seestadt mit ihrer überlebten Funktion, die sich aus einer archaischen imperialen und industriellen Vergangenheit speist, trägt schwer an ihrer Last von Symbolen.

Die Energien der parteiergreifenden, meistens männlichen, aus der Arbeiterklasse stammenden Massen werden - wie noch immer zuvor - von den oberen Klassen mit großen Sorgen und Verdächten wahrgenommen. In ihnen verkörpert sich vielleicht zum letzten Mal die Unruhe der Massen - rebellisch, trotzig und unberechenbar - in einer Gesellschaft, in der alle anderen öffentlichen Leidenschaften längst gezähmt sind.

Die durch den Fußball freigesetzten Kräfte bieten einen letzten Blick auf die kollektive Macht, die in den reichen Gesellschafen des Westens erfolgreich neutralisiert wurde; auf die Möglichkeit, daß diese Leidenschaft sich vielleicht auch in sozialen und politischen Bewegungen entladen könnte, statt sich in sportlichen Konflikten zu sublimieren.

Das erschreckendste Bild - neben den reglosen, im Sonnenschein ausgestreckten jungen Körpern - boten vielleicht die Gesichter, die sich in Todesangst gegen Drahtzäune preßten. Sie sahen aus, als entstammten sie der Ikonographie der Repression autoritärer Staaten, und sie lassen an anderes denken als an die Idee des Sports. Sie trugen den gequälten Ausdruck von Menschen in Gefangenenlagern; tatsächlich sprachen viele von den „Tribünen, die zum Gefängnis geworden waren“, von der Unvermeidbarkeit der Katastrophe in diesen verstärkten Einzäunungen, die mit wissenschaftlicher Genauigkeit darauf berechnet sind, dem grauenhaften Ausmaß des Drucks standzuhalten.

Wir können nur vermuten, welche unerwünschten und überschüssigen menschlichen Kräfte mit diesem enormen Eindämmungs-Apparat kontrolliert werden sollen; welche enttäuschten Visionen und beerdigten Träume in Schach gehalten werden, welche von vornherein zum Scheitern verurteilte andere Verwendung dieser Energien blockiert, durch die Drehkreuze gesiebt wird. Das manische Beharren der Regierung auf Identitätskarten in diesem Zusammenhang wird zur Ironie - geht es doch gerade um das Gefühl von Identität, dem so viele nachstreben in diesen Konflikten zwischen geographischen Einheiten, die physisch auswechselbar geworden sind. Denn was unterscheidet heute noch Sheffield von Nottingham, Manchester von Liverpool, Bradford von Leeds, mit ihren homogenen Wohnquartieren, der Austauschbarkeit ihrer Einkaufszentren, der identischen Dienstleistungswirtschaft?

Es besteht auch ein altes Klassenvorurteil in der Behandlung jener, die bei ihrem Nachmittagsvergnügen systematisch gedemütigt werden müssen. „Wir werden wie Tiere behandelt“, sagten einige hinterher; und wenn wir dies hören, erinnern wir uns daran, wie Vertreter der Regierung sie bei früheren Anlässen bezeichnet haben. Schon der Begriff „Fan“ steht für eine erniedrigende soziale Rolle, für einen verkleinernden und voreingenommenen Blick auf menschliche Wesen.

Tatsächlich gibt es keine größere Kluft als die zwischen der übertriebenen Verehrung für die Stars und Helden - den inflationierten Eintrittspreisen, dem öffentlichen Rummel der Kolumnisten und bewundernden TV-Interviews - und der Demütigung und Verächtlichmachung der Fans oder Verbraucher. Die Spieler werden mythisiert, in eine Aura des Ruhms entrückt, in der über alles berichtet wird, was sie tun oder sagen, und sei es noch so trivial; in diesem Prozeß entfernen sie sich von ihren Anhängern und Gefolgsleuten, die ebenso effektiv auf ihrem Platz gehalten werden, wie dies früher durch die Mysterien der Abkunft oder der gesellschaftlichen Stellung geschah. Diese erzwungene Trennung geht teilweise in den Bau der infamen Stahlbarrieren ein: Das Feld bleibt unberührbar, die Fans müssen sich mit dem Poster, dem Autogramm, der Fantasie zufriedengeben.

Das Nachspiel dieser tragischen Katastrophen hat inzwischen Züge eines vertrauten Rituals angenommen: die Premierministerin tritt auf, Gottesdienste werden abgehalten, Blumen am Ort des Geschehens niedergelegt, eine Geldsammlung in die Wege geleitet. Es bedeutet: Diese unerträglichen Schrecken sind Bestandteil unseres sozialen Lebens geworden; sie werden uns vertraut. Wieder einmal wird die eigentliche Lektion darin bestehen, wie die öffentliche Untersuchung aufgezogen wird: als eine großangelegte Übung, um die wahren Beziehungen zu verbergen - die Beziehungen zwischen diesen unnötigen Tragödien und den Erfordernissen dessen, was mit einem harmlosen Sonntagnachmittags-Vergnügen schon lange nichts mehr zu tun hat, sondern längst zum Bestandteil einer unbarmherzigen Maschine zum Geldverdienen geworden ist. Da ist es nur folgerichtig, wenn die Reklametafeln als Ersatz für die nicht vorhandenen Bahren herhalten mußten.

Jeremy Seabrook ist Journalist und lebt in London. Als Autor mehrerer Bücher hat er sich vor allem mit den veränderten sozioökonomischen Bedingungen der neuen britischen Arbeiterklasse beschäftigt. Seabrook publizierte unter anderem The Leasure Society (Die Freizeitgesellschaft), Life And Labour In A Bombay Slum (Leben und Arbeit in einem Slum in Bombay) und The Politics Of Hope (Die Politik der Hoffnung). Das ehemalige Mitglied der Labour -Party gehört inzwischen zu den englischen Grünen, versteht sich aber weiterhin als Sozialist.