Hemd aus der Hose, Geld verspielt

Deutsche Skatmeisterschaften im Mannschaftskampf 1989 / 16 Millionen Deutsche finden ihre Meister / Böse Buben und reizende Damen am Nordseestrand  ■  Aus Norderney Olga O'Groschen

Heinz stieg in Hannover zu und war blendend aufgelegt. „Ich bin der Automatenschreck“, prahlte er, griff sich eine Bierdose aus unserer Palette und geriet ins Plaudern. Drei Venus-Multi-Apparate habe er am Nachmittag niedergemacht, „un‘ denn 'ne richtige Tour, Leute, jede Kneipe zwo Bierchen und'n Schnabbs, siebzehn Kneipen hab‘ ich geschafft, aber nu‘ bin ich genuch herumgedackelt.“ Nach Oldenburg zog es ihn, zu einer gewissen „Matuschek, die liecht ja jetzt in Scheidung“, und so warf er sich zu uns auf die Sitzpolster der Bundesbahn. Unsere Palette Paderborner besah er mit Wohlgefallen: „Genau, erstmal zu Aldi, denn kannze trinken wie du lustig bist.“ Er war ein Prachtexemplar eines hellwachen Spielers, wie sie in deutschen Landen so selten sind. In allen Kartenspielen kannte er sich aus, beim Würfeln und Knobeln nicht weniger, holte lässig seine Geldbüschel aus der Tasche und stieg auf jede Wette ein, daß es eine helle Freude war. Als er uns verlassen hatte, durchstöberten wir vergeblich alle Abteile nach Skatspielern.

Die Fähre nach Norderney war gerammelt voll. Skatspieler, soweit das Auge reichte. An allen Tischen wurden die Karten gemischt, ausgeteilt, geordnet, Münzen klimpernd hin und her geschoben, brummend die Einsätze vereinbart. Unsere bleierne Müdigkeit schlug um in zappelnde Aufregung. Was wir hier sahen, übertraf unsere kühnsten Träume. Hier waren keine langweiligen Spießer, Knallköppe, Döspaddel und Windbeutel unterwegs zu einem ranzigen Vereinsturnier. Nein, wir waren unvermutet auf eine Ansammlung echt aufgedrehter Freaks gestoßen. Anhänger einer riesigen Untergrund-Sekte. Zugedröhnte Junkies, die sich von Spiel zu Spiel hangelten. Pilger des Grand-Ouvert. Natürlich im harmlosen Normalo -Look, der in Winsen oder Herne nicht aufgefallen wäre. Bei den Damen lugte hier und da ein Lockenwickler unter dem Kopftuch hervor, die Herren trugen zeitlose Hornbrillen, und sie alle kloppten Skat, brabbelten aufgedreht, gossen Bier in sich hinein und rauchten wie die Schlote. Die amtierenden Meister „Asdrücker Lichterfelde“ saßen um den Pokal geschart, ein silberglänzendes Ungetüm, und genossen den letzten Tag des Meisterruhms. Wir hängten uns in die Spiele rein, schraubten die Einsätze hoch, schaukelten unsere Spiele nach Haus und der Insel entgegen.

Norderney war eine herbe Enttäuschung. Das salmonellengesättigte Meer schwappte gelangweilt an die Betonstrandpromenade, dahinter reihten sich öde Klotzhotels. Im Städtchen irrten einzelne Urlauber umher, doch niemand beachtete unsere geflüsterten Einladungen zu einem Spielchen. Auch am Billardtisch in der „Klön Stuv“ ließ sich keine anständige Partie aufreißen. Im „Haus der Insel“, Kampfarena der nächsten Tage, plätscherte ein schlapper Preisskat der „Norderneyer Buben“ vor sich hin. Die Spielbank („Glück wie Sand am Meer“) blieb wohl aus Angst vor dem Ansturm der Kartenprofis und Spielhaie geschlossen. Die Werbung für Wattwanderungen widerte uns allmählich an, ebenso die Reklame des Norderneyer Schäferhundvereins, Schießsportvereins und Kaninchenzuchtvereins. Uns dämmerte, daß wir diese Angelegenheit nur in Topform würden durchstehen können; also schleppten wir Alkohol und Schokoladenvorräte in unsere Pension und übten fiese Kartentricks.

Räuspern und Rumoren

Am Sonnabend mittag war es soweit. „Superskatwetter“ frohlockten sie allerseits. Es war kalt und diesig. Die Kapelle der Freiwilligen Feuerwehr Norderney begrüßte die angereisten Skatfreunde mit heimischen Melodien. Einige japanische Touristen, sichtlich unangenehm berührt, zogen sich ihre Baseball-Mützen tief ins Gesicht und trotteten weiter. Die Teilnehmer rumorten aufgeregt im Saal herum, putzten ihre Brillengläser, kneteten die Hände durch, blätterten während der Begrüßungsreden noch in der Bildzeitung und räusperten sich hektisch. 608 Teilnehmer hatten sich qualifiziert; 120 Herren-, 20 Damen- und 12 Jugendmannschaften aus der ganzen Republik traten an. „Brillant Berlin“, „Alle Asse Dortmund“, „Reizende Jungen“, „Zum Stammtisch Oldenburg“ und „Geselligkeit Reydt“, um nur einige zu nennen. In zwölf Stunden Spielzeit, sechs Serien mit je 48 Spielen, würden sie die Meister ermitteln; 43.776 Skatspiele standen an. 912 Packen Spielkarten warteten auf ihren Einsatz. Stuhlrückend erhob man sich, als der Wettkampfeid verlesen und danach die Nationalhymne intoniert wurde. Es war eine feierliche Eröffnung, ein würdiger Rahmen für das große deutsche Nationalspiel. Dann saßen sie auf ihren Hintern, an jedem Tisch vier Leute, kratzten sich unter den Achseln, zündeten sich die ersten Zigaretten an, bestellten sich die erste Pulle Bier und stürzten sich auf die Karten.

Ein spirreliger Choleriker aus dem Rheinland saß einem bebrillten bierbäuchigen bayerischen Buddha gegenüber, hielt alle Buben in der Hand und sonst nur Luschen. Er spielte einen jämmerlichen Karo, versiebte und schrammte knapp an einem Tobsuchtsanfall vorbei. Der bayerische Buddha brachte seinen Grand mit Hilfe einer mörderischen Herzflöte nach Haus. Ein Berliner Vertreter im zitrogelben Wolljäckchen reizte in schwindelnde Höhen, nahm den Skat auf und stierte ihn mit hervorquellenden Augen an: „Ach hör mir bloß uff!“, drückte zwei Asse und entschied sich für Null-Ouvert. Nebenan krachte eine Pik-Lusche auf den Tisch, „Nimm dies, Freundchen!“, knallend schlug das As drauf und zögernd gesellte sich die blanke Zehn dazu. Ein Opa aus Lüchow schmierte, wimmelte und brockte, was das Zeug hielt, und ließ so jeden Alleinspieler in die Pfanne laufen. Nach einer Stunde wurde an Tisch 80 der erste Grand-Ouvert ausgerufen. Die Stimmung heizte sich zusehends auf. Die norddeutschen Skatfreunde fraßen ihren Ärger in sich hinein, spielten mutlose Herz- oder Karoblätter und gingen dauernd über die Dörfer. Die Berliner wußten alles, vor allem wußten sie alles besser und nervten ihre geschlagenen Gegner erbarmungslos mit „Mensch wieso haste nich... also wennde die Zehn geschnitten hättest... du Affe“. Die Bayern wiederum kicherten vor sich hin und soffen Bier, die Augen genüßlich zur Decke gedreht. Tabakschwaden lagen schwer im Saal, Bier wurde nachgeordert, hundert und aberhundert Männerstimmen brummten, seufzten, krächzten, fluchten, meckerten und lachten.

Männerfrisuren

Männer. Männer! Wir standen da, wie vom Schlag getroffen, und glotzten. Allein die reichhaltige Frisurenpalette hätte einen Kenner und Genießer wie John Waters glatt zur Raserei getrieben. Gleich hier vorn der klassisch strenge Seitenscheitel, daneben einige Schmierhaarsträhnen über dem blanken Haupt, linkerhand die moderne „Ich flirte gern„ -Föhnfrisur. Drei Tische weiter ein Jupp-Derwall-Schnitt, dann ein genialisch wirres Weißhaargestrüpp, aus Berlin war ein Kraushaarkopf mit Kaiser-Willem-Bart angereist, weiter rechts eine Jürgen-von-der-Lippe-Imitation. Im Hintergrund drohte ein Ion-Tiriac-Schnauzer. Auch brillenmäßig waren alle männlichen Kassenstandardgestelle vertreten. Und all diese Männer taten nichts als Skat kloppen. „Achtzehn!...Jau! ...Zwanzig... Immer!...Zwo...Hebbschä...Null?...Jawohl! ...Vier... Jaaa ... Sieben ... Wech!“

Stunden um Stunden spielten sie und standen in den Pausen einträchtig aufgereiht an der Pißrinne und memorierten ihre Spiele. „Dreckspiel! Mistskat!...Zwei Zehner hatt‘ ich im Keller, die haben mir den Hals gerettet ... da greift der Blödmann doch um auf Kreuz... is‘ nich mein Tag, Bier schmeckt heut‘ ooch nich‘... Da hackt er die Zehne rin, und ich seh‘ müde aus“. Breitbeinig standen sie draußen vor dem Saal, die Hände in den Hosentaschen, schoben die Bäuche vor und runzelten die Stirn. Und nach dem Abendessen aus der Bundeswehrküche ging es in die letzte Runde des Tages. Die Ärmel wurden hochgekrempelt, die Haare schweißnaß in den Nacken geklatscht. Wenn irgendwo ein Hustenanfall aufbellte, antwortete prompt im Saal ein ganzes Rudel von Raucherhusten. So saßen sie, die Beine verhakelt, die Hände das schwere Kinn stützend oder nervös fingertrommelnd, das Hemd aus der Hose gerutscht, den Bauch an die Tischkante gestemmt. Einige, die früh fertig wurden, schielten scheu über ihre Schultern und zogen dann klammheimlich ein Mau-Mau -Spiel durch.

Gegen Mitternacht waren die einen lustig und prosteten sich brüllend zu. Gequälte Mienen machten die notorischen Verlierer, die leidgeprüft murmelten: „Da haste einfach keine Schangse.“ Manche lagen nachts ihrer Gattin schluchzend im Arm: „Mutti, ich kann nich‘ mehr, ich schaff‘ das nich‘.“ Andere krochen wortlos in die Federn und rollten sich zusammen, das Gesicht zur Wand gedreht; da wußte die Olle dann auch, daß sie verloren hatten.

Der zweite Kampftag mußte die Entscheidung bringen. Bei den Damen standen schon frühmorgens die Sektgläser auf dem Tisch, und entsprechend aufgelockert war die Stimmung. Prustend, giggelnd und kichernd schauten sie ins Blatt, einer kölschen Oma hing unweigerlich eine Fluppe aus dem Mund, eine pinkgekleidete Berlinerin nahm den Skat auf: „Ach je, den könnt‘ ich knutschen.“ Auch hier wurden zackig die Karten gemischt; das von Loriot propagierte Kartenrühren fehlte leider völlig. Ebenso schmerzlich vermißten wir Spiele mit Kontra, Re, Bierlachs und Spitzen. Und was Geldspiele anbetraf, schienen diese Skatfreundchen ein feiger Haufen zu sein. All unsere Versuche, mit gezückten Hunderten zum Pausenspiel zu locken, schlugen fehl, ebenso Wettversuche auf den Turniersieger. Die Fußball- und Eishockeyergebnisse, ordnungsgemäß durchgegeben, wurden nur murrend zur Kenntnis genommen.

Böse Buben

Als Fernsehen und Rundfunk zur Preisverleihung auftauchten, wurden die Unterlippen wichtig vorgestülpt; wer einen Schlips trug, rückte ihn rasch zurecht. Unter dem donnernden Applaus der erschöpften Spieler nahmen die „Bösen Buben Solingen“ den Meisterpokal entgegen, bei den Damen die „Spielvereinigung Minden Lemgo“ und bei den Kleinen die „Auswahlmannschaft Vb 31“. Sensationell war das Abschneiden des Vorjahresmeisters „Asdrücker Lichterfelde“ mit dem zweiten Platz. Zuletzt wurden noch Verabredungen für das Turnier im Soldatenheim in Lütjenburg getroffen, wo ein Motorroller als Hauptpreis winkt. Und dann fuhren sie heim, verstrickt in heftige Streitereien. „Nur wegen dem Scheißkreuz!...Was? Wie bitte? Das Spiel war tot!“

Unbehaglich trotteten wir durch das nächtliche Norderney. Wir sehnten uns nach Heinz und den Kumpels aus der Weserstraße. Dieser Einblick in die Volksseele hatte uns erschaudern lassen. Etwa 16 Millionen Deutsche spielen Skat; entsprechend hoch ist die Auflage der Hausfrauen- und Skatwitwenpresse. Die Skatspieler bleiben ein Menschenschlag für sich. Sie wandern durch eine ganz eigene Welt. Sie tragen kleine Notizbücher mit sich herum, vollgekritzelt mit Punkten, bösen Blättern und seltsamen Berechnungen. In ihren Köpfen werden schlackerlack die Karten gemischt, Prachtblätter verteilt mit Bombenfindungen im Skat. Ein Besuch in dieser eigenartigen Welt ist aufreibend. Diese Leute leben nach einem Rhythmus von fernen Trommeln, die wir niemals hören werden.