Reform ohne Demokratie?

Die offizielle Trauerzeremonie für das verstorbene chinesische Politbüromitglied Hu Yaogang wurde aus der „Halle des Volkes“ über Lautsprecher an das auf dem Platz des Himmlischen Friedens versammelte Volk übertragen. Die BBC berichtete, Hunderttausende hätten schweigend zugehört. Nach der Feier seien die Staats- und Parteiführer einen Augenblick oben auf die Treppe des Hallenportals getreten und hätten stumm die Menge angestarrt, bevor sie in ihre sargähnlichen Luxuslimousinen verschwanden. Wenn es so war, ist das eine Szene von praller Symbolik; KP-Generalsekretär Zhao Ziyang, in dieser Funktion Nachfolger Hus, hat in der Totenehrung Hu als exemplarischen Kommunisten und Reformer für die Parteiführung vereinnahmt. Er hat zugleich jede Erklärung dafür verweigert, warum Hu Anfang 1987 gestürzt wurde. Diese Erklärung forderten aber die demonstrierenden Studenten und damit zugleich Aufklärung und Debatte über die Weiterführung insbesondere der politischen Reform.

Die Studenten stehen in ihrer Mehrheit selbst auf dem Boden der Reformpolitik, und sie ehren in Hu einen jener aufgeklärten Bürokraten, die unter der Führung Deng Xiaopings die stalinistische Bürokratie Maos und der Viererbande ablösten, um die Herrschaft der KPCh zu retten.

Insofern hinkt der Vergleich der jetzigen Demonstrationen mit dem „Tiananmen-Zwischenfall“ vom April 1976, als eine ebenso große Menschenmenge den kurz zuvor verstorbenen Ministerpräsidenten Zhow Enlai ehrte und mit ihren Demonstrationen den Sturz des Viererbanden- und Mao-Systems einleitete. Damals ging es um einen Systemwechsel. Heute geht es (noch) um die Weiterführung der Reformen, die das neue System selbst eingeleitet hat.

Jetzt jedoch fordern die Studenten Demokratisierung als fortsetzung der Reform, und hier bricht der Dialog mit der Parteiführung ab. Die politische Reform stagniert, teils weil die Deng-Reform seit je als technokratische und nicht als demokratische Erneuerung gemeint war, teils weil die wirtschaftliche Reform ungezügeltes Wachstum und neue Ungleichheiten produziert hat, die durch stärkere zentralstaatliche Kontrolle gebremst werden sollen. Und Einschränkung der wirtschaftlichen Freiheit produziert Einschränkung der politischen Freiheit, eine Erkenntnis, die die etatistisch orientierte europäische Linke noch nicht verarbeitet hat.

Neue Qualität der Demonstrationen

Gegenüber den Studentendemonstrationen, die im Januar 87 zum Sturz von Hu Yaobang führten, haben die Kundgebungen aus Anlaß von dessen Beerdigung eine neue Qualität. Zum ersten Mal hat die junge Studentenbewegung in den letzten Tagen Unterstütung in breiteren Teilen der Bevölkerung gefunden. Der immer berechtigte, aber diffuse Schrei nach Freiheit verbindet sich mit der Unzufriedenheit mit einer chaotisch -bürokratischen Preis- und Einkommenspolitik, die den ärmlichen Lebensstandard der meisten Städter bedroht.

Die Demonstrationen in Peking klangen nach Ende der Trauerfeiern ab. Sie haben erst einmal ihren symbolischen Gegenstand verloren. Statt dessen kam es in Xian zu gewaltsamen Unruhen. Vier Stichworte zu Xian, die zugleich das Spektrum der Widersprüche beschreiben, in denen die chinesische Entwicklung steckt: ländliche Armut und Rückständigkeit des nord-west-chinesischen Lößplateaus; seit den fünfziger Jahren aus dem Boden gestampfte Schwerindustrie, Zentrum der chinesischen Luft- und Raumfahrt; nach Peking größtes Tourismuszentrum mit entsprechend aufgeblähten Dienstleistungseinrichtungen; eine örtliche politische Führung, die für ihre Betonköpfigkeit berüchtigt ist.

Wo immer die wirtschaftlichen Liberalisierungs- und Dezentralisierungsimpulse aus Peking auf besonders verfestigte konservativ-bürokratische Strukturen stoßen, wird vor allem das häßliche Gesicht der Wirtschaftsreform sichtbar: Ineffizienz und Geldschneiderei. Wer schon einmal

-darunter sicher auch viele taz-Leser - Tage und Nächte auf dem Flughafen Xian verbracht hat, weil die Flüge über- oder falsch gebucht waren oder weil irgend jemand nicht ausreichend geschmiert wurde, hat in dieser Hinsicht eine typische Erfahrung gemacht.

Das Ideal der Pragmatiker um Deng Xiaoping ist technokratische Effizienz und nicht demokratische Freiheit. Aber auch für dieses Ziel werden sie nicht nur die wirtschaftliche Reform weitertreiben müssen, sondern auch die politische - um Betonköpfe zu knacken. Daran hindern sie nicht nur „Sachzwänge“, die Notwendigkeit, die von der Reform hervorgebrachten Widersprüche und Ungleichheiten staatlich zu zügeln, sondern auch ihre instinktive Abneigung gegen das Mit- und Hineinreden des Volkes in Staatsangelegenheiten.

Was immer die chinesische Führung jetzt tut, die Zügel weiter anziehen oder mit der Reform fortfahren, sie muß mit krachendem Aufbrechen der sozialen, wirtschaftlichen und regionalen Widersprüche rechnen. Wenn sie die Zügel aber zu stark anzieht und den Reformprozeß ab- und unterbricht, riskiert sie nicht nur den endgültigen Verlust ihrer politischen Legitimation im Innern, sondern auch außen- und binnenwirtschaftliche Rückschläge, die auch die internationale Stellung Chinas gefährden würden. China zu einer Großmacht zu machen, ist aber nicht nur eins der erklärten Ziele der alten Herren in ZK und Staatsrat, sondern auch der Studentenbewegung. Für sie besteht kein Widerspruch zwischen Demokratie und glühendem Nationalismus. Man sollte nicht vergessen, daß viele Studenten, die wir heute für ihr demokratisches Engagement bewundern, vor wenigen Monaten gegen die Präsenz afrikanischer Studenten an ihren Hochschulen demonstriert haben.

Jochen Noth