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Aids und die „Apocalypse from now on“

■ „Aids und seine Metaphern“: Das neue Buch der Kritikerin, Erzählerin, Filmemacherin und Regisseurin Susan Sontag / Gegen die Inflation des apokalyptischen Geschwätzes / „Unsere Leiber erleben keine Invasion. Unser Körper ist kein Schlachtfeld“

Sophinette Becker

Ihr neues Buch Aids und seine Metaphern bezeichnet die Amerikanerin Susan Sontag als „Gedanken beim Wiederlesen von Krankheit als Metapher“, das 1977 in den USA erschien und an das vorweg erinnert sei: Damals selbst an Krebs erkrankt und erbittert über „die Erkenntnis, wie der Ruf dieser Krankheit das Leiden der an ihr Erkrankten verschlimmert“, wollte Susan Sontag die „Mystifizierung der Krebserkrankung“, die „Ammenmärchen und Metaphern rund um den Krebs“ aufdecken und analysieren, um auf diese Weise bei anderen Krebserkrankten und ihren Angehörigen unnötiges Leid zu lindern, getreu einer Maxime von Nietzsche: „Die Phantasie des Kranken beruhigen, daß er wenigstens nicht wie bisher mehr von seinen Gedanken über seine Krankheit zu leiden hat als von der Krankheit selber -, ich denke, das ist etwas! Und es ist nicht wenig!“

Susan Sontag kritisierte nicht nur die Kriegsmetaphorik der somatischen Medizin („Invasion“ der Krebszellen, „Beschießen“ der Patienten mit Strahlen, „Kreuzzug“ gegen den Krebs etc.), sondern polemisierte gegen jede Bedeutungszuschreibung. Ihre zentrale Botschaft war: Krebs ist eine Krankheit ohne Bedeutung, „nichts ist strafender, als einer Krankheit eine Bedeutung zu verleihen - da diese Bedeutung unausweichlich eine moralische ist“. Die Phantasie von einer Welt ohne Krebs lehnte sie genauso ab wie die Auffassung der etwas Anspruchsvolleren, Krebs bedeute den Aufstand der zerstörten Öko-Sphäre, die Rache der Natur an einer „verderbten technokratischen Welt“.

Ihre heftigste Attacke galt allerdings der Psychologisierung von Krebs, allen psychosomatisch -psychologischen Theorien über die sogenannte „Krebspersönlichkeit“. Diese Attacke verwirrte mich damals sehr, denn ich beendete gerade meine Diplomarbeit über psychosomatische Aspekte bei Brustkrebs und hatte in meinen Interviews mit betrofffenen Frauen viele der Theorien über psychische Faktoren bei der Entstehung von Krebs bestätigt gefunden (so etwa die Abwehr sexueller Wünsche; die Unfähigkeit, aggressive Gefühle zu empfinden und auszudrücken; die mißlungene Verarbeitung traumatischer Verluste nahestehender Personen). Und nun sezierte Susan Sontag gnadenlos alle meine psychoonkologischen Säulenheiligen - von Groddeck über Wilhelm Reich bis zu Le Shan und Bahnson - und bezichtigte sie der Ideologie.

Durch subtile historische Vergleiche entlarvte sie die psychologischen Theorien über die Ätiologie von Krebs als Zeitgeistprodukte. So sei die Tbc in Bildern beschrieben worden, die das negative Verhalten des homo oeconomicus des 19.Jahrhunderts zusammenfassen (Auszehrung, Verschwenden von Vitalität); Krebs werde in Bildern beschrieben, die das negative Verhalten des homo oeconimicus des 20.Jahrhunderts zusammenfassen (abnormes Wachstum, Energieunterdrückung, das heißt eine Weigerung, zu konsumieren oder auszugeben).

„Die viktorianische Vorstellung von Tbc als einer Krankheit infolge geringer Energie (und erhöhter Sensibilität) hat ihre genaue Entsprechung in der Reichschen Vorstellung von Krebs als einer Erkrankung infolge unausgedrückter Energie und anästhetisierter Empfindungen. In einer Zeit, in der es für einen produktiven Menschen keine Hemmungen zu geben schien, waren die Menschen besorgt, nicht genug Energie zu haben. In unserer eigenen Zeit der zerstörerischen Überproduktion auf wirtschaftlichem Sektor und der wachsenden bürokratischen Restriktionen gegenüber dem Individuum gibt es sowohl die Angst, zu viel Energie zu haben, als auch die Befürchtung, daß es der Energie nicht erlaubt werden könnte, sich Ausdruck zu verschaffen.„

Krankheit zwar nicht mehr als Strafe, aber dafür als Ausdruck des eigenen Wesens, des Charakters anzusehen, sei nur scheinbar weniger moralisch, weil dadurch dem Kranken die Verantwortung für seine Krankheit aufgebürdet werde. „Psychologische Krankheitstheorien sind machtvolle Instrumente, um die Schande auf die Kranken abzuwälzen. Patienten, die darüber belehrt werden, daß sie ihre Krankheit unwissentlich selbst verursacht haben, läßt man zugleich fühlen, daß sie sie verdient haben.“ Ihre Popularität verdankten diese psychologischen Theorien nur ihrer Funktion als säkularisiertem Spiritualismus, der einen Triumph über Tod und Krankheit und damit die Kontrolle über etwas Unkontrollierbares verspreche.

Meiner Verwirrung versuchte ich zunächst dadurch Herr zu werden, daß ich die bestechende Analyse der Autorin als intellektuell gekonntes psychisches Abwehrmanöver einer Betroffenen deutete, die sich in ihrer Todesangst an die Versprechungen der somatischen Medizin klammert und damit unkritisch deren monokausales Denken übernimmt. Bestätigt wurde ich in dieser Auffassung durch Sontags Ablehnung multifaktorieller Krankheitskonzepte und ihre Gewißheit, Krebs werde sich als Krankheit herausstellen, „die eine Hauptursache hat und durch ein einziges Behandlungsprogramm unter Kontrolle zu bringen ist“.

Obwohl nun mein psychosomatisches Weltbild wieder stimmte, beschäftigte mich die Kritik weiter, blieb ein Stachel der Skepsis zurück, dessen Wirkung auf mich sich in drei Einsichten zusammenfassen läßt:

1. Psychosomatisch-psychologische Forschung über Entstehung und Verlauf körperlicher Krankheiten ist sinnvoll und wichtig. Sie muß sich aber immer der Gefahr bewußt sein, die Kranken zu Schuldigen zu machen, die ihre Krankheit selbst verursacht hätten. Dies wurde mir zum ersten Mal sehr deutlich, als ich mich mit der Medizin im Nationalsozialismus beschäftigte und feststellen mußte, daß die (zum Beispiel noch von Mitscherlich vertretene) Auffassung, besonders beziehungsweise nur die seelenlose technokratische Apparatemedizin sei für den Nationalsozialismus anfällig gewesen, so nicht stimmt nicht wenige nationalsozialistische Ärzte waren begeisterte Anhänger der psychosomatischen beziehungweise der Ganzheitsmedizin und für die Vernichtung sogenannten „unwerten“ Lebens. (Genaueres zu diesem Problem bei Wuttke -Groneberg und bei K.H.Roth).

2. Die Analyse eines krankheitsverursachenden, „falsch“ gelebten Lebens impliziert immer auch die Gefahr einer normativen Forderung nach einem „richtigen“, gesunden Leben. Für die terroristische Wirkung dieser Forderung auf den Einzelnen ist es letztlich unerheblich, ob die Inhalte der Norm Sport, Diät, Vermeidung von Laster und Ausschweifung oder befreite Sexualität, Rauslassen von aggressiven Gefühlen, Glücklichsein und Trauerarbeit sind. „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ (Adorno).

3. Das Bewußtsein dieser Gefahren bietet einen guten Schutz gegen den „Furor sanandi“, der den Kranken und durch Krankheit Bedrohten ein gesundes, heutzutage: ein „positives“ Leben oder die „richtige“ Bewältigungsstrategie („good coping“) lehren bis aufnötigen will.

Susan Sontags neues, diesmal ohne eigene Betroffenheit, aber mit der gleichen Intention verfaßtes Buch Aids und seine Metaphern erscheint zu einem richtigen Zeitpunkt, zu dem schon viele der mit Aids verbundenen unbewußten Ängste und Projektionen aufgedeckt und analysiert worden sind etwa in Aids als Risiko, herausgegeben von Volkmar Sigusch. Deshalb kommt einem beim Lesen auch vieles bekannt vor. Dennoch lohnt sich die Lektüre; zum einen wegen der brillanten Stringenz, mit der sie die verschiedenen Mystifikationen in einen historischen Zusammenhang bringt, zum anderen wegen der über Aids hinausgehenden Analyse der gesamtgesellschaftlichen Katastrophen-Metaphorik. Aus der Fülle ihrer Überlegungen will ich nur drei Gedankenstränge herausgreifen: Aids als konstruierte Krankheit, Aids als Metapher für die Moderne und Aids als Metapher für die „Apocalypse from now on“. Aids - die konstruierte Krankheit

Susan Sontag zeigt, daß Aids eine Krankheit ist, deren Identität definiert und konstruiert ist - eine bestimmte Anzahl von Symptomen bedeutet Aids oder ARC. Gefährlicher als diese willkürliche Definition ist die Ausweitung des Krankheitsbegriffes, der mit Bezeichnungen wie „Vollbild„ -Aids, „Aids-Vorfeld-Patienten“ oder „ausgewachsene“ Krankheit die zwangsläufige Kontinuität von symptomloser HIV-Infektion bis zu Aids nahelegt: „Aber alles, was keimhaft angelegt ist, muß reifen. Das Knospenhafte muß sich entfalten, was noch nicht flügge ist, muß wachsen, und so macht die botanische oder zoologische Metapher der Ärzte die Entwicklung zu Aids zur Norm, zur Regel.“ So können die Infizierten zu den Kranken gezählt und so behandel werden als Menschen, die noch kein Aids haben, es aber mit Sicherheit kriegen werden, die „scheinbar gesund, aber schon verdammt“ sind. Sontag weist darauf hin, daß es zwar die modernen, wissenschaftlichen Methoden der Medizin sind, die es ermöglichen, „eine neue Klasse von Parias zu erzeugen: die künftigen Kranken“, daß aber dahinter die wenig moderne wissenschaftsfeindliche Logik der „Verunreinigung“ steckt. Aids und die Moderne

Neben der für das Funktionieren des kapitalistischen Wirtschaftssystems notwendigen Verbraucherideologie des Konsum-Imperativs gibt es schon länger ganz andere, aber komplementäre Botschaften, die zur Selbstkontrolle und Selbstzucht auffordern. Diese vor Aids schon von vielen im Namen der Gesundheit oder des idealen körperlichen Aussehens freiwillig realisierten Selbstbeschränkungen bekommen im Zeichen von Aids den Anschein der Notwendigkeit. Die Reaktion auf Aids ist aber „mehr als die ängstliche und daher angemessene Antwort auf eine sehr reale Gefahr. Sie drückt auch einen positiven Wunsch aus, den Wunsch nach strafferer Zügelung der Lebensführung. Es gibt in unserer Kultur eine breite Tendenz, eine Endzeitstimmung, die durch Aids verstärkt wird; bei vielen eine Erschöpfung rein säkularer Ideale - Ideale, die die Libertinage zu ermutigen oder jedenfalls keine konsequente Absage an sie zu liefern schienen -, worin auch die Reaktion auf Aids ihren Platz hat. Das Verhalten, das durch Aids stimuliert wird, ist Teil einer größeren, dankbar angenommenen Rückkehr zu dem, was als 'Konventionen‘ angesehen wird, wie die Rückkehr zu Figur und Landschaft, Tonalität und Melos, Handlung und Held, nebst manch anderer vielgepriesener Abkehr von der schwierigen Moderne in der Kunst... Die Reaktion auf Aids nährt verbreitete, schon in den siebziger Jahren verstärkt aufgekommene Zweifel an vielen Idealen (und Wagnissen), der aufgeklärten Moderne; und der neue sexuelle Realismus geht einher mit der neu entdeckten Freude an tonaler Musik, an Bouguereau (französischer Maler 1825-1905), einer Laufbahn als Investment-Banker und kirchlichen Trauungen.„

Auch wenn sich der Kulturkampf der Rechten im wesentlichen gegen die „60er Jahre“ richtet, beschreibt Sontag manche Tendenzen, die meines Erachtens weit in das linke und grüne Spektrum hineinrichen. Apocalypse from now on

Am spannendsten finde ich Sontags Analyse des „apokalyptischen Geschwätzes“, dessen reaktionär-repressive Funktion sie ebenso aufzeigt wie seine die wirklichen Gefahren derealisierende Wirkung:

„Das Überleben der Nation, der zivilisierten Gesellschaft, der Welt selber, steht angeblich auf dem Spiel - Behauptungen, die vertrautes Versatzstück eines Plädoyers für eine Repression sind (ein Notstand erfordert 'drastische Maßnahmen‘ usw.). Das Weltuntergangsgeschwätz, das Aids hervorgetrieben hat, gerinnt unweigerlich zu einem solchen Plädoyer. Doch es leistet noch etwas anderes: Es bietet eine stoische, letzten Endes betäubende Betrachtung der Katastrophe.„

Die Untergangsphantasien, die sich an Aids entzünden, entstammen einem „Bedürfnis nach einen apokalyptischen Szenario“, das Sontag für ein Spezifikum der westlichen Gesellschaft hält. Der „Geschmack am Szenario des schlimmsten Falls“ verrät eine „Komplizenschaft mit der Katastrophe“, die die Verheißung bedeutet, „aufzuräumen, tabula rasa zu machen, von vorn anzufangen“.

Damit spricht Sontag das an, was mir schon immer Unbehagen an apokalyptischen Visionen gemacht hat: Das implizite Versprechen, daß nicht alle umkommen werden und daß es die Guten sind (die, die umkehren), die die Apokalypse überleben werden. Die reaktionäre Variante dieser Phantasie führt, wenn der Eintritt der Apokalypse auf sich warten läßt, zu den üblichen Folgen eines manichäischen Weltbildes, das heißt zur Ausgrenzung und Verfolgung. Die linke Variante dieser Phantasie sehe ich eher im Verwechseln persönlichen „guten“ Verhaltens (etwa: Müll sortieren, Strahlenwerte von Nahrungsmitteln berücksichtigen, diverse Formen des protestantischen Verzichts in der Lebensführung) mit politisch wirksamen Aktivitäten.

„Mit der Inflation des apokalyptischen Geschwätzes ist die zunehmende Entwirklichung der Apokalypse gekommen. Ein permanentes modernes Szenario: die Apokalypse lauert..., aber sie kommt nicht. Und sie lauert weiter.„

Und so fördert die Vielzahl apokalyptischer Visionen die Neigung, sich mit einer globalen Vernichtung abzufinden. Sontag unterscheidet moderne Apokalypsen, die sich nicht ereignen, deren Ausgang nur zu vermuten bleibt (die Über -Rüstung), und solche, die sich sehr wohl ereignen und trotzdem (bisher) nicht die am meisten befürchteten Konsequenzen zu haben scheinen (so die astronomische Verschuldung der Dritten Welt, die „Überbevölkerung“, die Umweltzerstörung etc.); und schließlich jene, „die sich ereignen und sich dann (wie man uns sagt) doch nicht ereignet haben: so der Zusammenbruch des Aktienmarktes im Oktober 1987, der ein echter 'Börsenkrach‘ war wie der im Oktober 1929 und doch wieder keiner“. Die Apokalypse sei jetzt „eine Serie mit zahlreichen Fortsetzungen. Keine 'Apocalypse now‘, sondern eine 'Apocalypse from now on‘. Die Apokalypse ist zu einem Ereignis geworden, das eintritt und nicht eintritt.“ Und deshalb erzeugt die Vielfalt der Endzeiteventualitäten vor allem die Verleugnung der Realität und nicht politische Wachsamkeit.

Schon oft habe ich mich gefragt, warum trotz all der Projektionen auf HIV-Infizierte und Aids-Kranke gesamtgesellschaftlich die Tendenzen gegen Stigmatisierung überwiegen? Sontag erklärt dies mit der Eignung von Aids als „Reservoir für die allgemeinsten Befürchtungen der Menschheit“, wodurch die Versuche, die Krankheit auf deviante Gruppen zu reduzieren, bis zu einem gewissen Grade gegenstandslos werden. So kann eine Metapher also auch mal etwas Gutes an sich haben.

Nicht alle Metaphern um Aids seien gleich degoutant und schief, meint Susan Sontag. Am meisten liegt ihr am Verschwinden der militärischen Metapher:

„Nein, es ist kein wünschenswertes Ziel, daß die Medizin 'total‘ sei, ebensowenig wie der Krieg. Auch die durch Aids hervorgerufene Krise ist nichts 'Totales‘. Unsere Leiber erleben keine Invasion. Der Körper ist kein Schlachtfeld. Die Kranken sind weder unvermeidbare Opfer noch Feind. Wir die Medizin, die Gesellschaft - sind nicht befugt, mit allen nur möglichen Mitteln zurückzuschlagen... Von dieser Metapher, der militärischen, würde ich, Lukrez paraphrasierend, sagen: 'Erstattet sie den Kriegstreibern zurück.'„

Susan Sontag, Aids und seine Metaphern, Hanser-Verlag 1989, 100 Seiten, 14,80 Mark

Susan Sontag, Krankheit als Metapher, Hanser-Verlag 1980, 96 Seiten, 12,80 Mark

Die Psychologin Sophinette Becker arbeitet in der Abteilung Sexualwissenschaft der Universitätsklinik Frankfurt. Sie ist Mitglied der Bundestagsenquete-Kommission „Gefahren von Aids“.

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