: Gefallen an der Front der Dialektik
■ Heiner Müllers „Wolokolamsker Chaussee I-V“ an den Münchner Kammerspielen
So macht Bewußtsein Sitzfleisch aus uns“, kann die DDR -Beamtin mit Preußenblut in den Adern gerade noch stöhnen, dann ist es soweit: Sie ist mit ihrem Schreibtisch verwachsen. Das Ergebnis: ein Kentaur, die neueste Version jenes antiken Wesens mit Pferdeleib und Menschenkopf. Derart verwandelt kommen dem Schreibtisch-Kentaur die Fragen. Wie scheißt ein Schreibtisch? Und wie bitte funktioniert das mit der Paarung? Und vor allem: Was kommt dabei heraus? Das „Greuelmärchen aus dem Sächsischen des Gregor Samsa“, wie die vierte Szene der „Wolokolamsker Chaussee“ untertitelt ist, ist ein längerer Monolog. Und Jennifer Minetti findet genau den Ton, der den glückseligen Albtraum der Beamtin schrill-grotesk zuspitzt, aber doch ernst nimmt. Es ist der Höhepunkt einer überaus geglückten Inszenierung des neuesten Heiner-Müller-Stücks, eine greulich-vergnügliche Szene.
Kurz zuvor hatte die Beamtin ihren Mitbeamten ausgetrickst. Er, des Sozialismus überdrüssig, will sich umbringen. Sie rät ihm, bei Rot über eine Kreuzung zu fahren - während der Rush-Hour, versteht sich. Als Wolfgang Pregler dann wirklich auf dem Fahrrad gefahren kommt, mit nacktem Oberkörper und siegesgewiß flatterndem rotem Fähnchen, hat sie allen Grund, köstlich amüsiert in ihren Schreibtisch zu beißen.
Das fünfteilige Stück des DDR-Dramatikers beginnt mit “ Russische Eröffnung und “ Wald bei Moskau . Müllers DDR ist auferstanden aus dem Schlamm, den Schützengräben bei Moskau. Aber anders als die sozialistischen Nachkriegs-Grotesken trägt diese Schlamm-Geburt Züge einer Tragödie. Die Panzer der Sowjetunion zwingen zwar Nazi-Deutschland nieder, halten später aber auch die sozialistischen Brudervölker im Zaum.
Schon in diesem Anfang steckt der Widerspruch. Heiner Müller personifiziert ihn in der Figur eines russischen Offiziers. Der versucht während des Krieges, angesichts der erdrückenden Übermacht der Deutschen, seine Autorität zu wahren: Ein Deserteur muß erschossen werden. Die Hinrichtung ist der erste Schritt zum Sieg - aus dem Haufen wird ein Bataillon. Die Entscheidung des Offiziers ist dennoch mit Zweifeln durchsetzt: Offizier und Deserteur sind ein und dieselbe Person, zwei Seiten einer Medaille, in München gespielt von Claus Eberth und Horst Kotterba. In der langen Eingangssequenz kommen sie zeitlupenhaft und sich gegenseitig würgend auf die Bühne. Immer sind sie beides: Richter und Delinquent, Offizier und Soldat, Mannschaft und Führung. Eine Geste nur, und der eine spielt das Andere, oder den widersprechenden Teil derselben Figur. Der Text ist Material und flutet zwischen den beiden hin und her.
Seit längerem schon schreibt Heiner Müller immer wieder Theaterstücke, die nicht mehr dialogisch und fast schon entdramatisiert sind. Die Texte ähneln kleinen Erzählungen, Erzählungen allerdings, in denen Minen losgetreten werden. Daß der Dialog aus seinen Stücken verschwindet, hat zweifelsohne mit Müllers Beschäftigung mit antiken Stoffen zu tun. Aber auch mit der Tatsache, daß er einer Grundthese des dialektischen Materialismus widerspricht und dies formal umsetzt.
Für Müller ist der dialektische Widerspruch nicht mehr wie Brecht noch glaubte - Geburtshelfer des sozialistischen Fortschritts. Denn die Widersprüche etwa des russischen Offiziers treiben nichts voran. Das Ergebnis: Der sozialistische Mensch ist „gefallen an der Front der Dialektik“. Er wird zum real existierenden Amokläufer und die DDR-Geschichte zum dialektischen Nullsummenspiel. Weil das so ist, können die vorhandenen Widersprüche nicht mehr auf mehrere Figuren verteilt und diskutiert werden. Das Theater ist so auf ganz neue Art gefordert. Denn der Erzähltext muß wieder in Figuren und Bilder aufgelöst werden, in Figuren allerdings, die sich nicht als Charaktere voneinander abgrenzen.
Der Regisseur der Münchner Inszenierung, Hans-Joachim Ruckhäberle, hat das Wortmaterial feinfühlig aufgelöst und souverän auf die Stärke des Erzähltextes gesetzt. Manch einer könnte versucht sein, sich angesichts von soviel Undramatik in Bilder zu flüchten, aber anders als bei „Germania Tod in Berlin“ oder der „Hamletmaschine“ hat Müller diesmal kaum Bildvorschläge in den Text eingebaut. Wenn Ruckhäberle überhaupt Bilder entstehen läßt, dann sind es zumeist Posen, wie wir sie von sozialistischen Helden -Standbildern kennen. Die Figuren nehmen sie ein und verharren, andeutungsweise: Die Faust gereckt, mit roter Fahne. Absurd-komische Bilder wie der Fahrrad-Selbstmord sind die Ausnahme.
Die Widersprüche setzen sich fort. Was im Wald bei Moskau begann, geht im VEB-Direktorensessel weiter: die dritte Szene heißt „Das Duell“. Peter Herzog und Arnulf Schumacher spielen den Direktor und seinen Stellvertreter. Der Stellvertreter ist Produkt seines Chefs, ein einfacher Mensch, der studierte, weil es die Ideologie so wollte. Aber er selbst wollte nicht: „Ich will nicht sagen, die Intelligenz ist erblich, aber wie man aufwächst, denkt man“. Die späte Rache des zur Mathematik Gezwungenen: Er schlägt sich auf die Seite der streikenden Arbeiter, der Direktor soll abgesetzt werden. Die beiden umschleichen einander, bedienen sich des Texts wie eines Floretts, es kommt zu jähen Wendungen, Ausfällen, Attacken. Was beim Offizier und seinem Delinquenten der Würgegriff war, ist hier eine grandiose Spiegelfechterei.
Als Vorlage für Teil Fünf diente Müller eine Kleist -Erzählung, „Der Findling“. Der Zusammenhang jedoch ist unklar. In Kleists Erzählung geht es um die Geschlechterfolge, um die Aufnahme eines Findelkindes und dessen fehlende Dankbarkeit: Als Erwachsener treibt es ein satanisches Spiel mit den Pflegeeltern. In Müllers „Findling“ treffen Vater und Tochter aufeinander: „Dreh dich nicht um, dein Vater ist ein Schlächter“, sagt die Tochter. Denn ihre revoltierenden Freunde werden von den russischen Panzern in Schach gehalten, und der Vater billigt das. Kleist auf den Kopf gestellt? In München werden beide Rollen von Schauspielerinnen dargestellt, Irene Clarin und Friederike Kammer. Die Auseinandersetzung geht über die Bühne, aber es bewegt sich nichts: „Das Messer steckt, aber das Herz schlägt weiter“.
Jürgen Berger
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