Krise vor der Show

■ Zum Blitzbesuch der Minister Genscher und Stoltenberg in Washington

Grabenkrieg zwischen Bonn und Washington, Allianz vor schwerer Zerreißprobe - der gestrige Montag war ein Tag der schrillen Töne, noch bevor Ergebnisse der Gespräche Genschers und Stoltenbergs in Washington überhaupt bekannt wurden. Vor allem die englischen Blätter entwerfen bereits Szenarien, die ausgehend von Genschers vermeintlichem „Kniefall“ vor Gorbatschow die BRD bereits auf dem Marsch zu einem neuen Rapallo sehen. Die Telefondrähte im Dreieck Washington, London, Bonn laufen heiß, der Plausch am Draht, so heißt es, werde auf höchster Ebene geführt. US -Kriegsminister Cheney sieht die Russen bereits triumphieren, denn die „Denuklearisierung“ Europas sei schon immer deren vordringliches Ziel gewesen. Wochenendurlauber ohne Fernsehanschluß können sich nur die Augen reiben: Haben Genscher und Kohl vielleicht laut über einen Nato-Austritt nachgedacht, soll Bonn zur atomfreien Zone erklärt werden? Schön wär's, doch leider geht es nur um einen Aufguß von sattsam Bekanntem. Genscher möchte, daß die Amerikaner sich bereit finden, möglichst bald mit Gorbatschow auch über die atomaren Kurzstreckenraketen zu reden. So what, selbst Dregger ist seit langem der Meinung, je kürzer die Reichweiten, desto toter die Deutschen. Da die USA diese Einschätzung im letzten Wintex-Manöver noch einmal bestätigten, braucht sich niemand zu wundern, daß die Aufrüstung dieser Geschosse nicht sehr wählerwirksam ist. Da dürfte sich auch Bush nicht wundern, daß Genscher/Kohl wenigstens versuchen, den Anschein zu erwecken, als würden sie sich gegen diese Entwicklung stellen. Doch leider wissen wir aus Erfahrung: Kohl wird diese Chance verspielen wie viele Chancen vorher. Spätestens nach der Regierungserklärung am kommenden Donnerstag ist der Sturm im Wasserglas wieder vorbei. Übrigbleiben wird eine weitere verwaschene Formulierung, auf die sich jeder beruft, die aber nichts bewegt.

Jürgen Gottschlich