Japan sucht seine politische Moral

■ Zum Rücktritt des skandalgeschädigten japanischen Premiers Takeshita

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Mit einer gewissen Gleichgültigkeit verfolgt die westliche Welt heute das politische Ableben des Noboru Takeshita. Daß Bestechungsaffären in Japan für westeuropäische Maßstäbe unvorstellbare Ausmaße annehmen, daß Politiker korrupt sind, kurz, daß es Geld und nicht Ansehen ist, das seit Kriegsende immer der gleichen Partei (LDP) in Japan die Herrschaft sichert, all das wußte man bereits. Wozu also aufblicken, wenn eine so unauffällige Gestalt wie Noboru Takeshita die Weltbühne nach kurzem Gastspiel wieder verläßt? Weiß man nicht sowieso, daß japanische Regierungschefs stets nur auswechselbare Marionetten im Spiel von Tokios Banken und Kartellen sind?

Japanische Politik war bis heute auf Transparenz weder angelegt noch angewiesen. Die Tradition besagt: Machtausübung in Tokio ist keine Darstellungs-, sondern Verschleierungskunst. Auch Takeshita, der Unscheinbare, blieb dieser alten politischen Kunst treu. Er selbst verdeckte die Kulissen, in der andere für ihn regierten. Von der Bühne mußte er erst, als durch den Skandal Licht auf die Kulissenschieber fiel. Insofern erfolgte Takeshitas Abschied nur im Sinne der Tradition. In diese Tradition fügt sich auch die alte Auffassung, nach der „in der Welt halt nicht alles so läuft, wie wir es wünschen“. So erscheint die japanische Krise zunächst wieder nur als alltäglicher Vorgang.

Deshalb wird verständlich, warum auch zu dieser Stunde in Tokio, in der kaum ein führender LDP-Politiker mehr Regierungsgeschäfte zu übernehmen wagt, weil auch in seiner Tasche die Recruit-Gelder klimpern, immer noch kein eigentlicher Machtwechsel absehbar ist. Absehbar vielleicht nicht - und dennoch näher denn je: Wo alles den gewohnten Gang zu nehmen scheint, machen sich Veränderungen nur schwer bemerkbar. Die aber hat es mit Recruit auch gegeben.

Seit Kriegsende versuchte die japanische Opposition aus Sozialisten und Kommunisten mit den Methoden westlicher Gesellschaftskritik die japanischen Machtverhältnisse zu entlarven - und scheiterte. Denn davon abgesehen, daß nur wenige Japaner die Politik als etwas begriffen, das es überlegt zu analysieren galt, stellten sich diese Machtverhältnisse als äußerst kompliziert und schwer entwirrbar dar. Aus diesem lang andauernden Dilemma schaffte der Recruit-Skandal nun wunderbare Abhilfe. Schon fast ein Jahr lang, seit Bekanntwerden der Bestechungsaffäre, reduziert sich das politische Interesse der Japaner auf eine einzige, täglich spannende Frage: Wer hat Recruit-Gelder in Empfang genommen und wer nicht? Mit anderen Worten: Wer unter den Politikern ist gut und wer böse? Plötzlich ist die hochkomplizierte, undurschaubare Welt der Politik für den japanischen Bürger in einer Einfachheit faßbar geworden, die dem Niveau der täglich millionenfach aufgelegten Trivial -Comics entspricht. Einer Einfachheit, der sich letztlich auch die durch und durch von Staat und Wirtschaft korrumpierten Medien nicht erwehren konnten. Sie mußten jeden Tag neu berichten und schürten damit selbst mit kritiklosen Berichten das Feuer.

Allzuoft beklagen Nippons Rechtsnationalisten den neuen „postmodernen“ Individualismus der Japaner. In ihm finden die bislang schwachen Oppositionsparteien heute einen unerwarteten, politisch freilich noch unerprobten Verbündeten. So naiv die Recruit-Skandal-Frage nach Gut und Böse in der Politik erscheinen mag, sie könnte Japan weiterhelfen.

Georg Blume