Wer ist Jude? Wer ist Deutscher?

■ Bundesdeusche Staatsanwaltschaften ermitteln wegen Urkundenfälschung gegen jüdische AussiedlerInnen aus der Sowjetunion / Von Jutta Oesterle-Schwerin

DEBATTE

In der vergangenen Woche wurde ein Vorgang bekannt, durch den die Absurdität der bundesdeutschen Einwanderungspolitik so deutlich wurde wie nie zuvor: Auf Initiative des Auswärtigen Amtes ermitteln bundesdeutsche Staatsanwaltschaften gegen jüdische AussiedlerInnen aus der Sowjetunion wegen dem Verdacht der Urkundenfälschung und des Betrugs im Zusammenhang mit der Anerkennung als Deutsche.

Dieser Tatbestand ist schon an sich ungeheuerlich. Noch ungeheuerlicher aber ist seine „Begründung“. So erklärte ein Sprecher des Außenministeriums gegenüber dem Hessischen Rundfunk, daß „viele nur aus handfesten materiellen Gründen kommen“. Jeder jüdische Übersiedler koste die Bundesregierung mehr als 400.000 Mark. Der Betrag sei deswegen so hoch, „weil insbesondere Juden oftmals Akademiker seien und deshalb Anspruch auf eine überdurchschnittliche Rente geltend machen“. Daher müsse man den Paragraphen 6 des Vertriebenengesetzes eng auslegen und verhindern, daß jüdische Aussiedler „in betrügerischer Absicht“ einreisten.

Ganz neu ist dieser Skandal allerdings nicht. Das Bundesverfassungsgericht und der Petitionsausschuß des Bundestages beschäftigen sich schon länger mit Beschwerden darüber, daß an jüdische AussiedlerInnen besonders harte Kriterien bei der Prüfung ihres Deutschtums gestellt werden. 'Die Zeit‘ berichtete schon im letzten Jahr vom Rentner F. aus Rumänien, der an einem Herzinfarkt starb, nachem er auf dem Gießener Flüchtlingsamt monatelang mit antisemitischen Äußerungen traktiert worden ist. Er wollte „frei unter Deutschen leben“ und starb als „Opfer der Judenverfolgung 1988“, wie der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Gießen in seiner Grabrede sagte.

Wer ist Jude? Wer ist Deutscher? Können Juden überhaupt Deutsche sein? Die Nazis waren da bekanntlich anderer Meinung...

Nach Paragraph 6 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) ist deutscher Volkszugehörigkeit, wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung und Kultur bestätigt wird.

Wenn es nach Sprache und Abstammung ginge, wären die Jiddisch sprechenden Ostjuden allerdings die „deutschesten“ AussiedlerInnen, die es überhaupt gibt. Ihre Vorfahren flüchteten im 11.Jahrhundert aus Gemeinden wie Speyer, Worms und Mainz, in denen wiederum ihre Vorfahren seit der Römerzeit lebten. Weitere jüdische Wanderwellen gab es im 14., 15. und im 18.Jahrhundert. Das von den Nazis fast gänzlich vernichtete Ostjudentum stammt überwiegend aus Deutschland, und diejenigen, die woanders herkamen, haben sich längst mit deutschstämmigen Juden vermischt. Das gleiche taten nichtjüdische Deutsche im Osten übrigens auch mit Russen, Polen, Rumänen und anderen.

Warum sind jüdische AussiedlerInnen also weniger deutsch als nichtjüdische? Wahrscheinlich hapert es am „Bekenntnis zum deutschen Volkstum“. Mit diesem verhält es sich in der Tat etwas schwierig. So schwierig, daß selbst bundesdeutsche Behörden es offiziell nur noch bis zum 30.Januar 1933 verlangen, weil auch sie der Auffassung sind, daß so ein Bekenntnis, nach dieser Zeit, für Juden nicht mehr zumutbar ist. Das heißt aber: Wer während oder nach der Nazizeit geboren wurde und in seinem Herkunftsland urkundlich nicht „als Deutscher“, sondern als „Jude“ eingetragen wurde, muß über seine Sprachkenntnisse hinaus das Bekenntnis seiner Eltern oder Großeltern zum Deutschtum nachweisen. Hier beginnt die Zugehörigkeit der Vorfahren zum deutschen Gesangsverein eine schicksalhafte Rolle zu spielen: Kannst du so eine Zugehörigkeit nachweisen, bekommst du einen Vertriebenenausweis mit all seinen Vorteilen. Kannst du es nicht - bleibst du AusländerIn.

Der Anreiz, da ein wenig nachzuhelfen, ist für Juden ebenso groß wie für Nichtjuden. Offenbar suchen bundesdeutsche Behörden nach dem Vorliegen dieses Deliktes bei jüdischen AussiedlerInnen wesentlich intensiver als bei russischen, polnischen oder rumänischen.

Der oben zitierte Paragraph 6 BVFG hat ein nahezu wortgleiches Vorbild in einem Runderlaß des Reichsministeriums des Innern aus dem Jahre 1939. Dort gab es allerdings einen Zusatz, der hieß: „Personen artfremden Blutes, insbesondere Juden, sind niemals deutsche Volkszugehörige, auch wenn sie sich bisher als solche bezeichnet haben.“ Dieser Zusatz wurde vom bundesdeutschen Gesetzgeber nicht übernommen, was bundesdeutsche Behörden offenbar nicht daran hindert, jüdische AussiedlerInnen besonders zu schikanieren.

Manche Leute meinen, man müsse dem durch eine Änderung des Paragraphen 6 BVFG entgegenwirken. Ich meine, das genügt nicht. Der aufgezeigte Skandal macht deutlich, daß das Übel weit unterhalb dieser schwammigen Vorschrift liegt. Übel ist es nicht nur, daß es den einen schwerer gemacht wird, ihr „Deutschtum“ zu beweisen, als anderen. Übel ist eine Politik, die Menschen bestimmter Nationalitäten, Rassen oder Religionen grundsätzliche Vorteile einräumt, während anderen Nachteile zugemutet werden. Daß man sich in Israel seit über 40 Jahren den Kopf darüber zerbricht, wer Jude ist, kann in diesem Zusammenhang nur als grotesk empfunden werden.

Wer sich darüber empört, daß jüdische AussiedlerInnen schlechter behandelt werden als nichtjüdische, der muß sich ebenso dagegen wehren, daß AussiedlerInnen überhaupt besser behandelt werden als Asylsuchende, ArbeitsemigrantInnen oder bundesdeutsche Wohnungssuchende. Mit der für Linke auf der Hand liegenden Solidarität mit den jetzt wieder diskriminierten Juden ist es nicht getan. Abgelehnt werden muß eine Einwanderungspolitik, die Deutsche aus Osteuropa bevorzugt, obwohl es für Menschen aus anderen Teilen der Welt im Moment massivere Fluchtgründe gibt. Nicht nur der Paragraph 6 BVFG muß weg - die Vorteile, die dieses Gesetz einer bestimmten Sorte Menschen bietet, müssen allen zuteil werden.