: „Von diesem Lohn kann ich nicht mehr leben“
In der Türkei tobt ein Arbeitskampf / Hunderttausende Arbeiter lassen sich nicht mehr von einer seit der Militärdiktatur gültigen restriktiven Streikgesetzgebung erschüttern / Inflation drückt Löhne / Regierung Özal mit dem Rücken zur Wand ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren
Das Bild ähnelt einer Demonstration. Tausende Arbeiter, rechts und links eingekesselt von behelmten Einsatztruppen der Polizei, marschieren durch Istanbul. Doch Transparente fehlen und Ziel des Zuges ist auch kein Kundgebungsort. „Wir gehen zur ärztlichen Untersuchung ins Krankenhaus“, ist die Antwort. Wird ein Arbeiter befragt, um welche Art von Krankheit es sich handele, erhält man stets schwarz auf weiß die gleiche Antwort. „Hier ist mein Lohnzettel. 127.000 Türkische Lira (umgerechnet 120 Mark). Ich kann nicht mehr. Ich bin psychisch am Ende.“
Während der Mittagspause auf der Militärwerft Gölcük haben sich Tausende Arbeiter, Frauen mit leeren Töpfen und Kindern versammelt. „We are hungry“, verkündet ein Transparent. „Warum in Englisch?“ frage ich. „Der Ministerpräsident Turgut Özal kann kein Türkisch. Er versteht nur die Sprache, die der Internationale Währungsfonds spricht.“
Straßenszenen zu den Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst. 500.000 Arbeiter sind betroffen: Dienstleistungsbetriebe wie Bahn und Post ebenso wie staatliche Produktionsbetriebe. Die Tabakarbeiterinnen der staatlichen Fabriken genauso wie die Stahlarbeiter von Karabük sind in Bewegung. Eine Streikwelle steht bevor. Die letzte große Streikbewegung fand 1979 und 1980 statt. Der Putsch des Militärs 1980 schlug sie nieder.
Das von den Militärs oktroyierte repressive Gewerkschafts und Streikgesetz ist heute - trotz sogenannter Demokratisierung, Wahlen und der zivilen Regierung Özal immer noch in Kraft. Die neoliberale Wirtschaftspolitik des Kabinetts Özal, die die türkische Ökonomie auf Export trimmte, hatte die extreme Senkung der Reallöhne zur Voraussetzung. Während die immense inflationäre Entwicklung an den Löhnen zehrte, sollten militärische Streikgesetze und die staatstreue Gewerkschaftsföderation Türki-Is für Ruhe in den Betrieben sorgen.
Acht Jahre nach dem Militärputsch ist die Bilanz erschreckend. „Der Anteil der Löhne und Gehälter am Nationaleinkommen sackte von 26 % auf 14 %, der Anteil von Profiten / Zinsen / Renten am Nationaleinkommen stieg von 49 % auf 72 %“, bilanziert Süleyman Özmucur von der angesehenen Bosporus-Universität die Entwicklung. „Selbst in Südkorea, Brasilien und Argentinien findet man nicht eine solche Einkommensverteilung.“
Die Arbeiter der staatlichen Spirituosen- und Tabakwerke Tekel rechnen mit ihren Lohnzetteln von 1980 und 1989 den Verfall der Reallöhne vor. Mit dem Jahreslohn von 1980 konnten sie noch 3.860 Brote kaufen, mit dem von heute reicht es gerade noch für 813 Brote. Mit 350 bis 400 % Lohnerhöhung könne der Fall der Reallöhne wettgemacht werden. Als in der Presse bekannt wurde, daß die Gewerkschaftskonföderation Türk-Is nur 170 % Lohnerhöhung als Leitfaden für die Tarifverhandlungen ausgegeben hat, sahen sich die Gewerkschaftsfunktionäre erbitterter Kritik ausgesetzt. Doch selbst 170 % sind für Regierungschef Özal, der vor seiner politischen Karriere das Sekretariat des mächtigen Arbeitgeberverbandes Metall MESS leitete, zuviel. Über 125 bis 130 % könne man reden.
„Die Arbeiter werden aufgehetzt“, verkündet Özal immer wieder. Zuweilen schreitet die Staatsmacht zur Tat. In Istanbul gab es Knüppeleinsätze. Die Arbeiter des Kohlekraftwerks Milas, die kollektiv zur ärztlichen Untersuchung marschierten, wurden zur Gendarmerie gebracht. Hunderte sind einzeln wegen des Arztbesuchs verhört worden. Doch die Vielfalt der Protestformen - Kantinenboykott, kahlgeschorene Haare, barfüßiger Arbeitsantritt und kollektive Aufmärsche zur Krankschreibung beim Arzt erschweren das polizeiliche Vorgehen. Hinzu kommt, daß die öffentliche Meinung auf seiten der Arbeiter ist. Ende der 70er Jahre war es ein leichtes für die Regierung, die Arbeiterbewegung als „marxistisch-leninistisch verseucht“, „anarchistisch und terroristisch“ darzustellen. Die Masse der Kleinbürger, Bauern und der verelendeten „Kleinunternehmer“, die in den Metropolen ein Subproletariat stellen, zollten damals der regierungsoffiziellen Propaganda Beifall. Heute will niemand mehr daran glauben. Die Lohnzettel, die die Arbeiter bei jeder öffentlichen Manifestation vorzeigen, sind Beweis genug. „Sie haben recht, mit diesen Löhnen kann man nicht leben“, heißt es auf der Straße.
Die Regierung Özal vertraut auf die repressiven Streik- und Gewerkschaftsgesetze, die einen Streik nahezu unmöglich machen. Die Finanzen der Gewerkschaften werden vom Staat kontrolliert. Die Regierung kann eine Reihe von Streikverboten aussprechen, und Gewerkschaften können für „illegale“ Aktionen ihrer Mitglieder verantwortlich gemacht werden. „Wer unter diesen Gesetzen streikt, ist ein Vollidiot“, hatte einst der Vorsitzende der Metallarbeitergewerkschaft verkündet. Doch wie will man eine halbe Million Arbeiter, die sich nicht mehr um Gesetze scheren, im Zaum halten? Eine direkte Konfrontation mit der Arbeiterschaft könnte Ministerpräsident Özal, der erst Wochen zuvor bei den Kommunalwahlen schwer angeschlagen wurde, seinen Sessel kosten.
Am 1.Mai steht eine entscheidende Schlacht an. Seit dem Putsch ist er ein Werktag, jegliche Demonstration ist verboten. Kleinere Grüppchen linker Demonstranten, die sich vergangenes Jahr in den Straßen sammelten, wurden auseinandergeknüppelt. Dieses Jahr haben trotz Verbots acht wichtige Einzelgewerkschaften zu einer Kundgebung in Istanbul aufgerufen. Erwartet wird die größte Kundgebung seit dem Militärputsch 1980. Die Regierung ist in einer Zwickmühle. Ein Verbot und polizeiliche Auflösung würde die Konfrontation während der Tarifauseinandersetzungen anheizen. Eine Genehmigung der Kundgebung käme einem bedeutenden symbolischen Sieg für die türkische Arbeiterbewegung gleich. Özal, der eine japanische Unternehmerdelegation empfing, macht - noch - gute Miene zum bösen Spiel.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen