: Gorbatschow entläßt die alte Garde
■ Ein Viertel des ZK der KPdSU ausgewechselt / Andrej Gromyko und die alte Garde gehen - Valentin Falin und weitere Reformer kommen / Größte Umbesetzung in der Geschichte der Partei / Jetzt fünfzig Mitglieder weniger im höchsten Parteigremium
Moskau (dpa/ap/afp/taz) - Perestroika in der Partei: Am Dienstag abend wurde in Moskau das Zentralkomitee der KPdSU umgebaut. Im Rahmen einer Verjüngungskur des ZK nahm ein Viertel der Mitglieder dieses obersten Parteigremiums den Hut - zum großen Teil konservative Politiker der „Stagnationszeit“, wie die Amtszeit des langjährigen Staats und Parteichefs Leonid Breschnew mittlerweile genannt wird. Vorwiegend Anhänger von Gorbatschows Reformkurses rückten nach.
Auf der außerordentlichen Plenarsitzung des Zentralkomitees wurden 74 von 301 ZK-Mitgliedern und 36 ZK-Kandidaten und Mitglieder der zentralen Revisionskommission „ihrer Pflichten entbunden“, wie Politbüromitglied Wadim Medwedew am Abend vor Journalisten bekanntgab. Begründung: „Sie können mehr so angestrengt für die Perestroika arbeiten wie notwendig.“ Medwedew sprach von einem „politischen Meilenstein“. In der Tat handelt es sich um die größte Umbesetzung des Zentralkomitees seit dem Parteikongreß vom März 1986, wo über die Neuwahl etwa 40 Prozent der ZK -Mitglieder ausgewechselt wurden. Und noch nie in der Parteigeschichte ist es auf einer Plenarsitzung des ZK zu einem Revirement dieses Ausmaßes gekommen.
Prominentester Aussteiger aus dem obersten Parteigremium ist der 79jährige frühere Staatschef und langjährige Außenminister Andrej Gromyko. Mit ihm gehen auch Breschnews Regierungschef Nikolai Tichonow (83), der frühere Chef der Parteikontrollkommission Michail Solomenzew (75), das ehemalige Politbüromitglied Geidar Alijew (65), der ehemalige ZK-Sekretär Wladimir Dolgich (65). In Pension gehen außerdem der Ex-Verteidigungsminister Sergej Sokolow (78), der über den Abschuß eines koreanischen Jumbo gestürzte Generalstabschef Nikolai Ogarkow (71), der in diesem Frühjahr als Oberkommandierende des Warschauer Fortsetzung auf Seite 2
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Pakts abgelöste Viktor Kulikow (68) und der früher im ZK für internationale Beziehungen zuständige Boris Ponomarjow (84). Auch die beiden abgesetzten Parteichefs von Armenien und Aserbaidschan, Karen Demirtschjan (57) und Kjamran Bagirow (56) mußten gehen. Alle Ausgeschiedenen hatten beim Politbüro, dessen Zusammensetzung nicht verändert wurde, ein gemeinsames Rücktrittsgesuch eingereicht, in dem sie die Perestroika, die viele von ihnen während ihrer Amtszeit hart bekämpft hatten, befürworten. So fiel denn auch die Abstimmung wie erwartet einstimmig aus.
Zu neuen Vollmitgliedern des künftig nur noch 251köpfigen Zentralkomitees wurden 24 Personen gewählt, unter ihnen der sowjetische
Botschafter in Bonn, Juli Kwizinski, sein Vorgänger Valentin Falin, im ZK für Außenpolitik zuständig.
Die Plenarsitzung, die zu der überraschenden Umbesetzung führte, lief offenbar reibungslos ab. Dies ist um so erstaunlicher, als gerade die reformfeindlichen Parteigenossen aus Leningrad die außerordentliche Sitzung einberufen hatten, um die Niederlage der Partei bei den Wahlen zum neuen Volksdeputiertenkongreß am 25. März zu diskutieren. Am spektakulärsten war das Debakel damals in Leningrad, wo fast sämtliche Kandidaten der Parteiführung durchfielen.
thos
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