: Spielen bis zum Exzeß: Sucht oder Neurose?
80.000 sogenannte Häufigspieler gibt es in der Bundesrepublik, 26 Prozent von ihnen fühlen sich durch das Spielen an Geldspielautomaten „belastet“ / Während sich die Experten über Therapien der Sucht oder Neurose streiten, versucht die Automatenbranche ihr Image durch Seminare für Journalisten aufzupolieren ■ Von Peter Huth
Sonntag morgens gegen acht Uhr auf einer Autobahnraststätte zwischen Nürnberg und Bayreuth. Zwei Männer auf dem Weg nach Berlin bedienen den Geldspielautomaten. Ich schlürfe starken Kaffee aus großen Henkeltassen. Die Bedienung schimpft auf die Nachtschichtkollegin, die einer Mutter heißes Wasser für ihr Baby verweigert hatte. Der Tankwart nickt müde: „Unglaublich!“ Ein hellblauer Kadett hält draußen, direkt vor der Eingangstür. Ein kurzer Blick des Tankwartes: „Er kommt wieder. Ob er Chips hat?“ Ein dicker, schwitzender, nervös kauender Hochdrucktyp betritt die Raststätte. „Hast du Chips?“ Ein kurzes angedeutetes Kopfschütteln. Der Tankwart eilt an seine Kasse. Der Dicke stellt sich neben die Bedienung. Kein „Guten Morgen“, kein Lächeln, nur den Blick starr auf die sich drehenden Scheiben des Automaten. „Spielen die schon lange?“ zischt er. Münzen klappern in seiner Hand. Die beiden Männer räumen das Feld. Der Dicke stürzt an den Automaten, schmeißt Geld ein. Roulette für Arme. Bei mir fällt der Groschen: Spielsucht!
Erste Untersuchungen zur Spielsucht führte der Psychologe G. Meyer durch. Aus seiner 1983 veröffentlichten Dissertation geht hervor, daß bestimmte strukturelle Merkmale von Geldspielautomaten mit Gewinnmöglichkeiten in gefährlicher Weise beharrliches Spielverhalten hervorrufen und zu Kontrollverlust nach Beginn des Spielens, ja sogar zur Sucht führen. Als dann der 'Spiegel‘ im gleichen Jahr von 500.000 gefährdeten SpielerInnen schrieb, schrillten in der Automatenbranche die Alarmsirenen. Die Branche mußte auf die Negativ-Werbung reagieren: Und so organisiert die Informationsgemeinschaft Münz und Spiel seit einiger Zeit Seminare für JournalistInnen zu den Themen aus den Bereichen Automatengeschichte, Städtebau, Kriminalität und sogenanntes problematisches Spielen, um das Image der Branche aufzupolieren und die Berichterstattung in den Medien in ihrem Sinne zu fördern.
Eines dieser Seminare fand vor drei Wochen in München statt. Referent zum Thema Spielsucht war der Diplom -Psychologe C. von Quast, der seine neuesten Untersuchungen über Spieler-Selbsthilfegruppen vorstellte. Von Quast lehnt die Suchtthese ab. Er orientiert sich wie die Mehrheit der zum Thema forschenden Psychologen am „Neurosenmodell“ des Hamburger Psychologen Dr.Iver Hand. Hand therapiert exzessives Spielverhalten nicht mit dem Ziel einer lebenslangen Abstinenz, sondern geht davon aus, daß dem „problematischen Spielverhalten“ eine neurotische Störung zugrunde liegt, die behoben werden kann. Spielhalle Spielhölle?
Für mich war die Diskussion, ob Sucht oder nicht Sucht, immer ein Psychologenstreit und nebensächlich, solange den Leuten, die abhängig spielten, geholfen wurde. Ich habe nichts gegen Geldspielautomaten oder Flipper in meiner Stammkneipe. Das Problem sind Spielhallen z.B. in Kreuzberg, die als Spekulationsobjekt benutzt werden, um Ladenmieten und damit den Wert renovierter Häuser in die Höhe zu treiben.
Für die Automatenbranche und für viele Kneipen wäre es ein herber Verlust, wenn nicht sogar das Aus, würde es stimmen, daß Geldspielautomaten süchtig machen. Die Suchtprophylaxe wäre dann recht einfach, folgt man einem Vertreter dieser These, dem Hamburger Chefarzt der Suchtabteilung des Allgemeinen Krankenhauses Ochsenzoll: die Automaten verbieten.
Nach den Untersuchungen des Diplom-Psychologen G.Bühringer gibt es in der Bundesrepublik circa. 80.000 Häufigspieler, von denen sich 26 Prozent durch das Spielen an Geldspielgeräten subjektiv belastet fühlen. Allein in Berlin ließen sich im letzten Jahr nach Angaben eines Mitarbeiters des „Cafe Beispiellos“, einer Beratungsstelle der Caritas, 471 Spieler beraten.
Laut von Quast existieren in der Bundesrepublik insgesamt 55 Spielerselbsthilfegruppen. 26 davon arbeiten nach dem Vorbild der Anonymen Alkoholiker. 67 Prozent aller Selbsthilfe„therapien“ ohne fachliche Anleitung. Die insgesamt 180 befragten Gruppenmitglieder haben ein geschätztes Durchschnittsalter von 30,8 Jahren. Die Gruppen existieren durchschnittlich seit 26 Monaten. Die Dauer der Mitgliedschaft wird mit 11,4 Monaten beziffert. Lediglich 29,4 Prozent der befragten Gruppenmitglieder befinden sich schon länger als ein Jahr bei der Gruppe.
Daraus schließt Quast, daß Gruppen aus einem kleinen stabilen Kern und einem größeren instabilen Rand mit großer Fluktuation bestehen. Der Großteil der Gruppenmitglieder geht davon aus, an einer Suchterkrankung zu leiden. Die durchschnittliche Höhe der spielbedingten Schulden bei den Geldspielautomaten liegt bei 26.900 DM. Durchschnittlich haben die Gruppenmitglieder 67 Prozent ihres monatlichen Netteoeinkommens verspielt.
Angriff auf die
„Anonymen Spieler“
Aufgrund seiner Untersuchungen spricht von Quast den Selbsthilfegruppen die Qualifikation ab, exzessiven Spielern helfen zu können. Er wirft ihnen vor, daß neuere theoretische Erkenntnisse (Neurosenmodell) kaum Eingang in die Gruppenarbeit finden. Auch die Aussage, daß exzessive Spieler an Entzugserscheinungen gelitten haben, hat für von Quast keine Relevanz und liegt für ihn eher darin begründet, daß sich die Gruppenmitglieder diese „Erscheinung“ in ihren Sitzungen einreden. Sollte „Zittern“ und „Schwitzen“ wirklich auftreten, nennt er das Abstinenzfolgen als Symptom einer dem problematischen Spielen zugrundeliegenden neurotischen Depression.
Seelische Probleme sowie Partnerschaftskonflikte sind es zumeist, die Spielsüchtige dazu veranlassen, eine Selbsthilfegruppe aufzusuchen. Von Quast bezweifelt, daß nicht professionell angeleitete Gruppen dazu in der Lage sind, solche Probleme zu erkennen und zu behandeln, insbesondere, wenn Abstinenz das vorrangige Therapieziel sei. Auch hinsichtlich der Rückfallquote seien anonyme Selbsthilfegruppen kaum effektiver als Gruppen mit anderen Therapiezielen. Man kann es auch andersherum formulieren: Fachlich angeleitete Gruppen haben im Hinblick auf Rückfälle keine besseren Ergebnisse als die „Anonymen Spieler“. Motive für den Ausstieg aus der Gruppe sind eine belastende Gruppensituation, zu wenig praktische Hilfen, unverändert schlechte Bedingungen in der Partnerschaft sowie eine zu wenig ausgeprägte Gleichstellung der Mitglieder.
Da in den Selbsthilfegruppen das einzige Therapieziel die Abstinenz ist, hält von Quast diese für den größten Teil der Gruppenmitglieder nicht nur für sinnlos, sondern auch für gefährlich. Er befürchtet, daß die neurotischen Störungen unentdeckt bleiben, wobei es zu einer Symptomverschiebung kommt und die Abhängigkeit zu einer oder mehreren Gruppen entsteht. Was dann wiederum zu einer Abschottung von der Umwelt führe und das Gruppenmitglied in seiner Meinung bestärke, die gesellschaftlichen Verhältnisse seien Schuld an seiner Sucht.
Als Qintessenz aus seiner Untersuchung fordert von Quast die Übernahme des Neurosenmodells für die Therapie und das heißt, mehr Unterstützung Hilfesuchender in praktischen Lebensfragen wie Arbeitslosigkeit oder finanzielle Schwierigkeiten. Ein neues Aufgabenfeld also für Sozialpädagogen und diverse Fachkräfte, die das enorm psychosoziale Potential der Selbsthilfegruppen nutzen und die Gruppen anleiten.
Für die Automatenbranche wiederum wäre die alleinige Akzeptanz des „Neurosenmodells“ ein Befreiungsschlag gegen alle moralischen Angriffe. Die Ursachen der Spielsucht würden keinen Zusammenhang mehr mit den angebotenen Spielen haben, sondern wären bei den Kranken selbst zu suchen. Es bedarf dann nur der Behebung der individuellen Macke, um diese Menschen wieder zu glücklichen Mitgliedern unserer freiheitlichen Gesellschaft zu machen.
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