Ungarns Marsch gen Westen

Der kommunistische Jugendverband KISZ hat sich von der Partei gelöst / Demokratisierung und wirtschaftliche Integration in den Westen sind seine Ziele / Die Opposition wittert ein Manöver der KP  ■  Von Friedhelm Wachs

Der Gulaschkommunismus ist tot. Mausetot, wie das Beispiel des am Wochenende aufgelösten Jugendverbandes KISZ zeigt.Der KISZ mit seinen rund 400.000 Mitgliedern war bislang ein beliebtes Experimentierfeld der ungarischen Kommunisten. Statt Marx laufen die ehemaligen Jungkommunisten nun den Altvätern des Kapitalismus und ökologischen Bewegungen hinterher. Bei der als Nachfolgerin von KISZ sogleich gegründeten Organisation „Ungarischer Demokratischer Jugendverband“ (DEMISZ), einem Sammelbecken für alle ungarischen Jugendverbände, steht dies schwarz auf weiß in den Statuten: Der Verband will am Aufbau einer Gesellschaft teilnehmen, „die zu Leistung anregt“, „in erster Linie auf der Familie“ beruht und „ökonomisch effektiv“ ist. „Diese Gesellschaft kämpft gegen jede Form der Zerstörung der natürlichen Umwelt, der Gewalt und des Ausgeliefertseins.“

Bruch mit dem

Machtmonopol der Partei

Für die Durchsetzung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Modernisierung wendet sich der Verband „gegen die Monopole der Gewalt und der Information“, die zur Zeit noch beim Staat und der Kommunistischen Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (USAP) liegen, und fordert „die umfassendste Kontrolle gegen die sich reproduzierenden Verhältnisse der Ungleichheit“. Wörtlich fordert die neue Organisation das Durchsetzen der Menschenrechte, der gesellschaftlichen Rechtsgleichheit und der Rechtsstaatlichkeit.

Doch die Opposition außerhalb der traditionellen kommunistischen Organisationen bleibt skeptisch. Sie hält markante Wendepunkte in der ungarischen Politik der letzten Monate für Makulatur. Die Abschaffung des Feiertags zur Erinnerung an die russische Oktoberrevolution halten sie für nebensächlich. Ebenso distanziert kommentieren sie die Neubewertung des ungarischen Aufstandes gegen die sowjetische Besetzung im Jahre 1956. Dieser historischen Revision ist es zu verdanken, daß der damalige Ministerpräsident Imre Nagy, der 1958 wegen Hochverrats zum Tode verurteilt und dann in einem Massengrab verscharrt wurde, exhumiert und am 16.Juni feierlich beigesetzt wird. Unwichtig ist diesen Alt-Oppositionellen auch die mehrteilige Ausstrahlung des systemkritischen Interviews mit dem ehemaligen tschechoslowakischen KP-Chef Alexander Dubcek im ungarischen Fernsehen.

Dubceks Bewertungen des Prager Frühlings provozierten besonders in der CSSR und in der DDR ein tagelanges Verratsgeheul. Doch trotz der heftigen Proteste aus dem sozialistischen Nachbarland strahlte das ungarische Fernsehen gestern den zweiten Teil des Dubcek-Interviews aus.

Opposition bleibt skeptisch

Für Laszlo Romhany, den Präsidenten des Jurta Theaters in Budapest, dem Zentrum der größten oppositionellen Sammlungsbewegung „Ungarisches Demokratisches Forum“, ist das Ganze eine Show, die nur der außenpolitischen Selbstdarstellung der ungarischen Machthaber im Westen dient. Die müßten gegenüber ihren Geldgebern im Westen besser dastehen, deshalb würde eine Scheindemokratie eingeführt. Aus Regierungskreisen will Romhany erfahren haben, daß die regierende USAP 17 Parteien und verschiedene Jugendorganisationen gegründet habe, um die Opposition zu spalten und selbst an der Macht zu bleiben. Der Vorsitzende des ehemaligen kommunistischen Jugendverbandes KISZ, der 32jährige Mathematiker Imre Nagy, bestreitet derartige „Zwangsneugründungen“. Neugründungen und Auflösungen seien natürliche Bestandteile des Reformprozesses. Wie gering der tatsächliche Einfluß der USAP in ihrer eigenen Jugendorganisation war, zeigt der Streit um den Namen der Nachfolgeorganisation. Ende letzten Jahres hatte Imre Nagy in einem Bericht an das Zentralkomitee der USAP festgestellt: „Im Statut über die Zusammenarbeit werden bei Beibehaltung der Bezeichnung KISZ auch die Bezeichnungen „Verband Sozialistische Jugendorganisationen“ und „Verband linker Jugendorganisationen“ gebraucht.“ Doch die ließ die Kongreßmehrheit links liegen. Der neue Verband wählte aus den vier Namensalternativen die einzige, die nichts mit links oder sozialistisch zu tun hatte: Demokratischer Jugendverband (DEMISZ). In seiner internen Struktur achtet DEMISZ auf Unabhängigkeit. Nicht nur, daß er sich dem Zugriff einzelner Parteien für die Zukunft entzog und klarstellte, daß die Mitgliedsverbände weder eine über- oder untergeordnete Rolle zum Dachverband einnehmen. Auch ein umfassender Minderheitenschutz wurde eingeführt. So ist im Statut das Recht festgelegt, daß Minderheiten nach Beschlußfassung an ihrer Meinung öffentlich festhalten dürfen. Mehr noch: Diese Minderheitsmeinungen müssen gemeinsam mit den Mehrheitsbeschlüssen publiziert werden. Abgelehnt wurde nur das Einstimmigkeitsprinzip und das der Urabstimmung.

Angesichts dieser Entwicklung und des Modellcharaktes nimmt es kaum Wunder, daß in dieser Woche der Staatssekretär im ungarischen Außenministerium, Gyula Horn, bei dem in Ungarn stattfindenden Kongreß der italienischen Radikalen Partei laut wünschte, daß noch in diesem Jahrtausend, also in den nächsten elf Jahren, die Möglichkeit geschaffen werde, daß das Land keinem Militärblock mehr angehören müsse.

Knacken im Gebälk: Das ungarische Parlament in Budapest

Foto: David Brandt

FREITAG, 28/7/89AUSLAND HINTERGRUND11