Die alten Zöpfe sind nachgewachsen

■ Die Proteste in China werden radikaler

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Zerschlagt den Laden des Konfuzius“, riefen die Studenten und die Intellektuellen in den Straßen Beijings vor 70 Jahren. Die Vierte-Mai-Bewegung, auf die sich die protestierenden Studenten Chinas dieser Tage wieder berufen, war damals ausgezogen, um alte Zöpfe abzuschneiden und die Gesellschaft für westliches Gedankengut - Marxismus und Demokratie - zu öffnen. Ging aus diesen Demonstrationen, denen sich später auch Arbeiter und Bauern anschlossen, zwar die chinesische KP hervor, so scheint heute dem Volk in den Straßen der chinesischen Hauptstadt nur eines am Herzen zu liegen: „Zerschlagt den Laden der KP.“ Mit den größten Massenprotesten in der Geschichte des Landes ist die KPCh auf dem Tiefstpunkt ihrer Popularität angelangt.

Das Volk hat genug von einer Reform, die nur ausgelöst wurde, weil nach der kulturrevolutionären Peitsche ein Butterbrot fällig war. Der Sozialismus chinesischer Prägung, den Deng Xiaoping vor zehn Jahren versprach, ist heute nichts anderes als eine Despotie östlicher Prägung, der den Partei-Kadern die Taschen füllt, während noch 100 Millionen Chinesen nicht satt werden und 235 Millionen Menschen Analphabeten sind.

Daß dieser Protest von Studenten angeführt wird, ist kein Wunder. Trotz gegenteiliger Beteuerungen sind sie noch immer die „Stinkende Nummer Neun“, wie es einst in der Kulturrevolution hieß. Nur zwei Länder investieren nach Ansicht des chinesischen Sacharow, Fang Lizhi, weniger Mittel ins Bildungswesen - nämlich Kamputschea und Haiti.

Noch gestern sprach die regierungsamtliche 'Volkszeitung‘ in bezug auf die Studenten von „wenigen Separatisten“. Das war bislang die übliche Floskel zur Charakterisierung von dissidenten Gruppen, die die Willkürherrschaft und Allmacht der KP in Frage stellten. Doch aus wenigen Separatisten sind eine halbe Million Demonstranten geworden. Die Regierung in Peking kann nicht mehr zur ihrer unkoordinierten reformistischen Politik zurückkehren, die darin bestand, an wirtschaftlichen Problemen rumzudoktern, ohne anstehende gesellschaftliche Fragen zu lösen.

Wie am 4.Mai 1919 steht China heute wieder an einem Meilenstein seiner Geschichte. Das wissen auch die 1.000 KP -Kader, die gestern eilends in die Große Halle des Volkes einberufen worden sind. Allein eine Sitzung dieser Größe in solch kurzer Zeit zu organisieren zeigt, wie nervös die Führung des Landes ist. Daß eine radikale Kehrtwende gefordert ist, steht wohl bei keinem der Beteiligten mehr außer Frage.

Doch wie kann die aussehen? Sicherlich gibt es in naher Zukunft keine Alternative zur Führung durch die KP, sollen nicht bürgerkriegsähnliche Verhältnisse heraufbeschworen werden. Nur müßten endlich Lippenbekenntnisse in die Tat umgesetzt werden. Schließlich fordern radikale Reformer in den eigenen Reihen schon lange Demokratisierung und eine entschiedenen Fortführung der Wirtschaftsreform.

Gorbatschows Besuch in drei Wochen könnte ein gutes Omen für die Weiterentwicklung solcher Reformen sein. Doch ist fast mit dem Gegenteil zu rechnen. Den Xiaopings Wort hat noch immer Gesetzeskraft in China. Und der alte Mann hat dazu aufgefordert, die Proteste rücksichtslos niederzuschlagen.

Jürgen Kremb