EIN SOLCH GETRIPPEL UND GEJOHL

■ Vom Verschwinden der Politik am 1.Mai

Vor zwei Jahren, am 1.Mai 1987, verschwand der Bezirk Kreuzberg 36 von der Bildfläche Berlins. Spurlos - für eine Nacht; 24 Stunden später errichtete man an seiner Stelle die politische Bühne, das Gespräch aller mit allen.

Keinen Akteur hatte die Mainacht gesehen. Wie im Theaterfoyer war man zusammengeströmt, die fortlaufende Vorstellung zu besprechen. Der Brand des Görlitzer Bahnhofs und die Feuer der Barrikaden errichteten eine lodernde Bühne, die jeden Blick auf die Szene verwehrte. Aus ihrer Mitte das rhythmische Dröhnen von Stein auf Eisen, nachhallend im Resonanzkörper der Flaneure. Ein Feuerwerk, variationsreich wie unter des Sonnenkönigs absolutistischem Illusionstheater - doch das Spiel von Macht als schönem Geheimnis schien hier auf radikale Weise den eigenen Schein zu verzehren. Das Feuer vom 1.Mai war weit mehr als die lästerliche Replik auf 750 Jahre Sternstunde Berlin - nicht Feier noch Revolution war es ein Fest im emphatischen Sinne, heidnisch, „gratuit“, ohne Glaube an Konstanz, noch Veränderung. Eine „hochgezit“, sagen wir mit dem Simplicissimus, „allwo ich im Saal Männer, Weiber und ledige Personen so schnell untereinander herumhaspeln sah, daß es frei wimmelte; die hatten ein solch Getrippel und Gejohl, daß ich vermeinte, sie wären alle rasend worden, denn ich konnte mich nicht ersinnen, was sie doch mit diesem Wüten und Toben vorhaben möchten? Ja, ihr Anblick kam mir so grausam fürchterlich und schrecklich vor, daß mir alle Berg gen Haar stunden, und konnte nichts anders glauben, als sie müßten aller ihrer Vernunft beraubt sein.“ - „Das Fest ist heidentum par exellence“ - doch wer aus dem Feuer der Mainacht zurückkam, den hatte das Fest verwandelt: Als reicher Mann kehrte er heim, die Arme voll Maoam und berauschenden Getränken; weit streute er die Köstlichkeiten unter das Volk, stand am Straßenrand und tauschte die Beute gegen klingende Münzen. Dann sank er nieder in den Schlaf vor der Bühne.

Auf dem Lausitzer Platz, nur wenige Meter entfernt, hatte das Fest seinen Ausgang genommen. Da standen im Dunkeln die Ordnungshüter, sie hatten den Ort in sicherer Hand - doch das Geschehen hatte sich in das feurige Fest an den Rändern des engen Platzes verflüchtigt, zwischen die Barrikaden, Bühnen für nichts. - Am Morgen des 2.Mai 1987 traf man sich früh schon und erzählte vor Autowracks und kokelnden Starkstromkabeln kleine Geschichten. Und das Hochgefühl einer gemeinsam durchfeierten Nacht gab den Berichten ihre schöne Performance. Gläubiges Kinderstaunen regierte, das hat auch vor dem ausgebrannten Wohnzimmer am Weihnachtstag noch seine Lust. Auch die Ordnungsmacht irrte wieder durch die Ruinen. Gottes Stimme aus den Wannen klang spöttisch: „Feuerwehrhäuptling, können wir dir helfen?“ Der Gesetzgeber ruft Moses - der aber schläft weiter. Unter den blicklosen Masken der zertrümmerten Bahnhofsuhren behandelte man den sichtbar gewordenen Gott morgens noch mit wohlwollender Ignoranz. Ortlos und zeitlos blieb die Nacht zurück - in jenem Fest ohne Feiernde und ohne Anlaß verzehrte das Fest der Revolte sich selber, wurde real, uneinholbar. Von nichts ist es ein Abbild, nichts stellt es dar. Das Feuer - man lese nach bei Canetti - das Feuer der Barrikaden ersetzt Rousseaus Maibaum in der Mitte des Platzes. „Pflanzt in der Mitte eines Platzes einen mit Blumen umkränzten Pfahl und sammelt um ihn das Volk - und ihr habt ein Fest. Besser noch: Macht aus den Zuschauern das Schauspiel, laßt sie wieder selbst zu Schauspielern werden, macht, daß jeder im andern sich selbst sieht, damit alle um so besser vereint sind.“ Am 1.Mai zerstreuten der flackernde Spiegel des Feuers und die Rhythmen aus seinem Innern das einige Volk zur staunenden Menge. Die Masse: ein Randphänomen. Wilmersdorfer Witwen

Zum zweiten Mal jährt sich das Verschwinden des Bezirks Kreuzberg 36 von der Bildfläche Berlin. Oft hat man seitdem versucht, das Ereignis wiederzuholen. Die Spaßguerilleros des „Büros für ungewöhnliche Maßnahmen“ bauten auf der Kottbusser Brücke ihre Mauer zum Rest-Berlin, der Innensenator brach den Verkehr mit seinem Randbezirk im Südosten ab, und auch muz‘ Ruf „Wiederholung ist konterrevolutionär“ (taz, 30.4.88) hörten nicht alle - doch weder Nachahmung, noch Abgrenzung oder die Negation der Anti -Berliner konnten sich jenem Akt des Verschwindens vom Mai '87 mimetisch anschmiegen. Kreuzberg bleibt in Berlin.

Der französische Denker des Geschwinden, Paul Virilio, berichtet über die „Verrückten vom Mai“: Auf dem Maiplatz von Buenos Aires stehen sie und machen Politik; die Mütter demonstrieren durch ihre Anwesenheit das Verschwinden ihrer Söhne. Verschwinden-machen, schreibt Virilio, ist die Ersetzung der Politik - der Anwesenheit aller Bürger auf der Agora - durch die Transpolitik der Schnellbahn zwischen Untergrund und Hochgleisen. Die Städte setzen sich in Bewegung.

Schön hingegen ist das Lied von der Volkskultur, dem das Straßenfest nachhängt.

Und als ich die Mainacht im Gewimmel / An Boulevard St.Germain geriet / Da hatte das Volk von Paris seinen Himmel / Da tanzte das Volk den Bal de Paris / Drei Blasmusikanten machten ein‘ los / Drei Lumpengötter des fröhlichen Balls / Sie bliesen uns immer das gleiche Stück / Und die Seele sich aus dem Hals. / Sie spielten schön, sie spielten falsch / Sie spielten so falsch und so schön / Und drumherum 'ne Menschheit, du, nie / hab‘ ich so Menschen geseh'n.

Doch der lebendige Zusammenhang von Arbeit und „hochgezit“, wie ihn Biermanns „Mainacht“ beschwört, ist in den Gesängen der Deutschen von Hebbel bis Bloch längst im Traum vom Süden, Italien und Frankreich kolonialisiert. Berlin hat keinen Maiplatz. In der Mitte des Lausitzer Platzes steht eine Kirche, Neogotik in Backstein. Hier demonstriert seit zehn Jahren der Bezirk Kreuzberg am 1.Mai seine Offenheit. In diesem Jahr - aus gegebenem Anlaß - gegen Faschismus und Ausländerhaß: „Alle Menschen sind Ausländer. Fast überall.“ Das ist die Politik der Transpolitik im Sinne Virilios, möchte man meinen. Das Lause-Fest ist bekannt für Internationale Solidarität - mit den hiesigen Ausländern wie mit den Müttern vom Maiplatz in Buenos Aires. Nichts also gegen das Lause-Fest. Es war (vor zehn Jahren) die Feier politischer Geselligkeit. Und wer sich auskennt, der findet die da noch heute. Doch Feststimmung will nicht mehr aufkommen; denn der Rückgang der Straßenfest-Bewegung der siebziger Jahre treibt heute auch Wilmersdorf und Schöneberg aus Rest-Berlin nach Kreuzberg zum Lause-Fest. Die Zeiten, daß sich der Bezirk in Gestalt seiner Initiativen zum großen Palaver beim Mahl und Informationsaustausch traf, sind damit vorbei. Kreuzberg ist zu klein für die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts. Das Lause-Fest platzt aus den Nähten; der große Traum einer Politik der Transpolitik wird unterlaufen von der inneren Bewegung der Metropole.

In der Mitte des Lausitzer Platzes steht statt des Bretterbodens der protestantische Backsteinbau. Der Tanz, allemal Signum von Volkskultur und Magie auf der Kirchweih, hat auf diesem Marktplatz weltumfassender Politik keinen Raum; vor dem ausladenden Kirchportal hockt man neben den „Ratten der Luft“ und futtert Falafel. Im Zeitalter des Bierzelts will das Straßenfest im Soziotop SO36 nicht zum Volksfest werden. „Es gibt keinen wahren Erlebnisraum im falschen“, schreiben Höge/Vogel im Mai '87 - und es gibt keine Brüderlichkeit in einer Kultur der Verbrüderung. Utz Donat, langjähriger Koordinator des Lause-Fests, ist darüber nicht traurig. Vorbei ist vorbei. Die Lebenswelt wuchert weiter, und das Kiez-Palaver hat andere Orte gefunden. GegenÖffentlichkeit

Am 1.Mai 1987 platzte das Lause-Fest endgültig aus seinen Nähten und verschwand in den Freudenfeuern der Mainacht. Der weltoffene Bezirk Kreuzberg inszenierte sein Verschwinden wie ein ephemeres Memorial für die „Verrückten vom Mai“. Transpolitik, der Verlust des städtischen Raums und seiner rhythmischen Zeit, spukte wie eine Erscheinung des Ersten, wie ein uralt kultisches Fest, durch die verdunkelten, flackernden Straßen.

Die Mütter vom Maiplatz demonstrieren für die Rückkehr ihrer Söhne, sie inszenieren die Politik - trotzdem, das Erscheinen der Agora im metropolen Raum. Kreuzberg hingegen inszenierte Transpolitik, das Erscheinen des Verschwindens der Szene. Das entspricht seinem Status; nichts zählt mehr hier - und nichts ist undurchsichtiger - als „die Scene“. Die setzte sich durch am 1.Mai 1987; das nicht enden wollende Leben-auf-Zeit der Dauerflüchtlinge aus Preetz und Istanbul, Athen und Garmisch fand eine Nacht ihren Ausdruck in dem feurigen, lärmenden Fest ohne Akteure. Ganz Kreuzberg bestaunte sich selbst. Das Fest aller mit allen, der demokratische Traum der Straßenfeste vom Lausitzer Platz, mußte weichen. Für eine Nacht. Für eine Nacht feierte man die Entlastung vom schönen Schein des allgemeinen Willens. Zwei Tage später setzten sich die vernünftigen Leute zusammen und errichteten die politische Bühne. Waren im Feuer die Akteure verschwunden, so fehlte beim Palaver nicht einer. Am 3.Mai 1987 waren alle vernünftig. Und ein neues Mahl tischte man auf, und es saßen um den Tisch zusammen die Kirche, die Politik, das Volk und die Autonomen, und gerecht maß man die Verantwortung und die Distanz zum Ereignis. „Unsere Punks waren det nich“, wußte Tante Emma (sie spart für das westdeutsche Altenteil). Mit der Vernunft fuhr auch der Schrecken den Kreuzbergern in die Glieder; und selbst die Opposition sah nicht den „Anschein einer politischen Rechtfertigung“. Da plädierten alle für die Rückkehr zur Politik. Man traf sich in der Kirche an der Glogauer Straße, und die Autonomen gaben ihren Schwur auf die Gemeinschaft: „Damit wir nicht unsere eigenen Lebensstrukturen im Stadtteil kaputtmachen und die Verbindung zu den Leuten im Kiez zerstören.“ Nun sprachen alle mit allen das Plädoyer für eine zivile Gesellschaft in der statt der reinen Ästhetik von Feuer und Lärm gegenseitiger Respekt wieder regiere. Nur wenn der Blick über die Grenzen der Stadt Kreuzberg hinausging, glänzte noch manches Auge: „Wir haben die 750-Jahr-Feier zwar einen Tag später eröffnet als Diepgen, dafür aber viel feuriger.“

Im sinnlosen Fest der Selbstzerstörung hatte Kreuzberg unwiederbringlich den Sieg errungen. 750 Jahre Berlin schienen unterzugehen in den wenigen Stunden, da am Görlitzer Bahnhof die Zeit stillstand. Doch es war ein Kampf mit ungleichen Mitteln. Am 1.Mai 1987 standen einander gegenüber das Fest und die Feier, das ehemalige Spiel der Zerstörung des Raums und das Spiel seiner Eröffnung. Das eine, das Fest, die Metamorphose der Scene in ein Feuer, ist undenkbar - die Gedanken gehen auf Wiedereinbürgerung. Die andere, die Feier, baut der Welt eine Bühne. Auf ihr versammelt sich das Weltvolk und spricht erneut die Worte der Politik: „Wir sind in Berlin zu Hause.“ (Tom Bradley, der Bürgermeister von Los Angeles am 30.April '87)

Das Fest der Verschwendung in Kreuzberg - die politische Feier Berlins; den einen gebührt der Ruhm, den anderen der Reichtum. Und während Kreuzberg in den Flammen verschwindet, simuliert Berlin zum 750sten Mal für seine Besucher die Geburt der Stadt aus dem Urschlamm: „Die Veranstaltungen haben mitgeholfen, einen öffentlichen Raum dort wiederherzustellen, wo vorher nur viel Platz, aber keine Öffentlichkeit war. Die Berliner sind zu Hunderttausenden dieser Einladung gefolgt und haben intuitiv verstanden, was hier vor sich ging.“ Mit seinen SternStunden inszenierte Berlin vor zwei Jahren das babylonische Spiel der Politik: die Verdrängung des Chaos‘ in der Geburt von Erlebnis-Raum und Partizipationshappening. Die Entlastung von der Angst vor verschlossenen Türen komplementierte man mit der kollektiven Vergebung der Sünden: „Mit den grandiosen Inszenierungen der SternStunden hat die 750-Jahr-Feier die 700-Jahr-Feier aufgehoben und unter Beweis gestellt, daß auch eine offene, demokratische Gesellschaft den großen Raum kulturell in Besitz nehmen kann und ihn nicht auf immer der Innerung an gleichgeschaltete Kolonnen einer unseligen Vergangenheit überantworten muß.“ Eine schöne, eine politische Feier - nur vielleicht an jenem 1.Mai '87 unnötig viel Entlastung für eine Stadt, die davon lebt, daß sie die Freiheit und nichts als die Freiheit repräsentiert. Spelunkentausch

Der 1.Mai ist ein ernsthaftes Fest. Er knüpft Utopie an feste Topoi und eine Klasse an einen universellen Anspruch. „Träger der großen bürgerlichen Kultur, die es noch ernst meinen mit der innerweltlichen Transzendenz, das waren in Deutschland die Juden und die Arbeiterbewegung mit ihren Intellektuellen.“ ('Die Zeit‘, 1.Mai 1987)

Die 750 Jahre sind vorbei. Am 1.Mai ziehen wieder die Arbeiter durch die Straßen und tanzen mit der IG Blech den Umzug Berlins. Und auch die Revolution hat seit einem Jahr ihre Tradition im Maifeiertag gefunden: „Es gibt keine Alternative zur Revolution“, steht auf ihren Plakaten, das ist so ernst gemeint, wie man will: am 1.Mai '87 verschwand am heißen Buffett bei Bolle das, womit Revolution ernst machen will: Politik.

Doch der 1.Mai ist ein offenes Fest. Da feiert, wer's kann. Die einen feiern die Arbeiterbewegung, die andern gegen die Ordnung im Land. Und am Kopfe des Zuges, auch in diesem Jahr wieder, da treibt der Mummenschanz an gegen SternStunden und für die „Veränderung der Stellung der himmlischen Mächte“ und am Ende des Zuges, auch dieses Jahr wieder, das Tanzen auf offener Straße, „wirft Konfetti und schreit gegen die Larven: sia ammazzato!“

Das hat Tradition. 1.Mai 1846: „Welch ein Lärmen und Rennen heute in allen Straßen der Stadt, welches Drängen der Möbel und Karren aller Art. Er ist heute allgemeiner Wohnungswechsel - und wiederum ist es nicht die Klasse der Besitzenden, sondern fast nur die ärmere Klasse, welche aus ihren bisherigen Spelunken in andere zieht...“. Am 1.Mai ist die Stadt in Bewegung. Nicht zum Gespräch aller mit allen, sondern um im armseligen Wettstreit jeder gegen jeden eine neue Bleibe zu finden. So war es jahrhundertelang - denn am 1.Mai war die Jahresmiete fällig, und so packte man also sein bißchen Hab und Gut und zog wieder los. Daran erinnern die Tanzenden auf den Demozügen kreuz und quer durch die Stadt. Am 1.Mai mimt man nicht Prozession, und kein König hält Einzug auf dem Platz in der Mitte der Stadt. Am 1.Mai ist die Stadt in Bewegung, Spiel der Transpolitik, Realismus.

Fritz von Klinggräft