Vor 60 Jahren: Barrikaden im Wedding

■ Blutige Straßenkämpfe am Nettelbeckplatz und in der Kösliner Straße / 33 Tote, 198 Verletzte, 1.228 Festnahmen / Als „Blutmai“ ging er in die Geschichte ein

Die Ruhe an diesem Mittwochmorgen, dem 1.Mai 1929, ist trügerisch. Einige rote Fahnen bewegen sich in der Kösliner Straße im kühlen Morgenwind, der letzte Schneefall liegt erst eine Woche zurück. Aber das Transparent mit einer Karikatur des Berliner Polizeipräsidenten und der Unterschrift „Dörrzwiebel“ ist bereits verschwunden.

Zwischen neun und zehn Uhr belebt sich die Kösliner Straße, aus den Fenstern hängen jetzt fast überall rote Fahnen. Am heutigen Werktag ruht in den großen Fabrikbetrieben die Arbeit. Während die SPD Versammlungen in geschlossenen Räumen abhält (erlaubt), ruft die KPD zu Demonstrationen unter freiem Himmel auf (verboten). So steht's in den Morgenzeitungen, von denen ein Teil gleich auf der Titelseite darauf hinweist, daß von den frühen Morgenstunden an besondere Polizeistreifen auf Lastwagen die Stadt durchfahren, um Ansammlungen gleich im Keim ersticken zu können.

Die höchste Alarmbereitschaft der Schutzpolizei ist im Wedding nicht zu übersehen. Was polizeitechnisch „Ansammlung“ genannt wird, entsteht in der Kösliner Straße schnell, denn die ist kurz, aber voller Menschen. Als sich ein erster Demonstrationszug formiert und an der Weddingstraße am Stammlokal der Kommunisten angekommen ist, blitzen an der Ecke Reinickendorfer Straße Tschakos und silberne Uniformknöpfe auf. Und auf der anderen Seite an der Pankstraße? Blaue Uniformen. Schlagartig sinken die Fahnen, schlagartig verstummt das Lied von den „Verdammten dieser Erde...“. Aber nicht das letzte, sondern das erste Gefecht bahnt sich an. Voller Panik flüchten die Menschen in die Kösliner Straße zurück, eine Frau wird niedergerissen und stürzt, von beiden Seiten rennen Polizisten auf die Masse zu, die Beamten feuern Warnschüsse in die Luft. Durch das Drängen und Stoßen an den Türen können nur wenige den Hausflur betreten. Wer weiter hinten steht, bekommt die Macht des Staates zu spüren: Gummiknüppel prasseln auf Schädel. Mühsam schleppen sich die Getroffenen in den rettenden Hausflur, wer es nicht mehr schafft, wird festgenommen und auf die Wache transportiert. Es dauert nicht lange, die Straße ist frei von Demonstranten und voll von Polizisten. Von den Fenstern aus haben Bewohner den Vorgang verfolgt. „Du Hund - schlägst deine eijene Mutter dot!“, schreit eine alte Frau herunter. „Bluthund!“, ertönt es von der anderen Seite. Die ersten Gegenstände werden aus den Fenstern geworfen. Die Polizei reagiert. Schüsse knallen gegen die Häuser, verbunden mit der Aufforderung, die Fenster zu schließen.

Im Haus Nummer 19, 3.Stock, bleibt ein Fenster geöffnet. Mit erhobenen Armen schaut vorsichtig ein Mann heraus. Langsam beginnt er zu den Beamten zu reden, doch dann fällt ein Schuß. Die erhobenen Arme fallen herunter, der Körper sinkt leblos zusammen und rutscht in die Stube. Der 52jährige Klempner Max Gemeinhardt, Mitglied der SPD, ist das erste Opfer der Polizei im Wedding. Weitere folgen. So ertönt in der Gerichtstraße plötzlich der Ruf: „Straße frei!“, und sogleich wird das Feuer eröffnet. Ein junges Mädchen, das spazieren ging, wird getroffen. Sie sinkt in einer Haustür zusammen. Niemand kümmert sich um sie. Später wird sie ins Virchow-Krankenhaus eingeliefert, wo sie am 6.Mai stirbt. Ein Kaufmann aus der Hochstraße, geschäftlich am Nettelbeckplatz unterwegs, beobachtet einen Polizeioffizier, der die Bürger selbst von den Haltestellen der Straßenbahn vertreibt. Von dem besonders diensteifrigen Beamten wird ein Zimmermann in Zunfttracht aus der Menge geholt und verprügelt, anschließend auf ein Polizeiauto verladen. Mehrere Verhaftungen. Etwas später läßt derselbe Offizier an der Ecke Wedding-/Kösliner Straße ohne Warnung feuern. Es wird auf zwei alte Leute geschossen, die aus dem Fenster schauen.

Im Laufe des Nachmittags hat sich wieder ein kleiner Demonstrationszug gebildet, der etwa zwei Stunden lang von der Polizei von der einen Straßenecke zur anderen getrieben wird, wobei die Beamten kräftig von den Gummiknüppeln Gebrauch machen, bis Verstärkung eintrifft und die Straße erneut geräumt wird.

Kurz nach 18 Uhr werden auf dem Nettelbeckplatz Spritzkommandos eingesetzt, denn dort stehen Hydranten, an denen Schläuche angeschlossen werden. Mit Einbruch der Dunkelheit reagieren die Demonstranten. Sie errichten an der Mündung der Kösliner zur Weddingstraße aus Baumaterialien, Brettern, Röhren und Baubuden eine Barrikade. Die Gaslaternen in der Straße werden ausgelöscht oder umgeworfen. Die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer: „Barrikadenkämpfe!“ Bei der Erstürmung der Barrikade unter Einsatz eines Panzerwagens werden die Uniformierten mit Steinen und mutmaßlich einigen Schüssen empfangen. Im Stile einer Kriegsberichterstattung sprach die Polizei zwar von unablässigen Salven, dieser Behauptung standen aber nicht nur Zeugenaussagen entgegen, sondern auch die Tatsache, daß während der gesamten Auseinandersetzungen in den Maitagen nur ein Beamter eine Schußverletzung zu beklagen hatte, die er sich selbst zugefügt hatte. Die zwanzig Verteidiger der Barrikade werden festgenommen. Die Schupos rücken von beiden Seiten in die Kösliner Straße ein, ständig aus ihren Karabinern schießend. Das Maschinengewehr des Panzerwagens kommt nicht mehr zur Ruhe. In der Dunkelheit werden die Häuserfronten unter Beschuß genommen, vornehmlich beleuchtete Fenster mit roten Fahnen. Die Straße ist geräumt, die Polizei riegelt den ganzen Block ab und installiert an den Straßenenden große Scheinwerfer. Die Hausfronten werden gespenstisch angestrahlt. Gegen 22 Uhr zieht sich die Polizei zurück, es kehrt eine gewisse Ruhe ein. Als gegen Mitternacht erneut in Minutenschnelle zwei Barrikaden gebaut werden, wiederholt die Polizei ihre Aktion.

Im Tageslicht des 2.Mai sind die Spuren des Polizeieinsatzes unverkennbar: Die Häuser weisen fast überall starke Kugelspuren auf, bis zum 3.Stock hinauf sind die Fensterscheiben durchschossen und zertrümmert. An Eingängen sind die Türfüllungen demoliert, die Kugeln sind durch das Holz in den Hausflur eingedrungen und haben zwei Menschen tödlich getroffen, deren Blutlachen noch zu sehen sind. Schaulustige stehen davor.

Die Polizei hatte sich, von gelegentlichen Patrouillen abgesehen, zurückgezogen. In der Nacht wiederholte sich das blutige Schauspiel: Barrikadenbau, Erstürmung, Hausdurchsuchungen. Zwischen ein und zwei Uhr wurde ein Stahlwarengeschäft geplündert. Gestohlen wurden Messer, Rasierklingen, zwölf Schreckschußpistolen und ein Trommelrevolver samt Munition.

Am Morgen des 3.Mai erschien die 'Rote Fahne‘, die Zeitung der KPD, nicht mehr, sie wurde für drei Wochen verboten. Mittags veröffentlichte Polizeipräsident Zörgiebel den Erlaß eines „Verkehrs- und Lichtverbots“ für die beiden Unruhebezirke: „Von 9 Uhr abends bis 4 Uhr früh ist jeder Verkehr in den nachstehenden Straßen verboten ... Straßenwärts gelegene Fenster müssen in der angegebenen Zeit geschlossen bleiben. Auch darf kein Licht in den straßenwärts gelegenen Zimmern brennen. ... Am Tage darf in den in Betracht kommenden Bezirken und Straßen sowie Fluren, Nischen und Toreinfahrten keine Person stehenbleiben. ... Personen, die sich ohne Ziel auf der Straße bewegen, werden festgenommen. Zusammengehen von mehr als drei Personen ist nicht gestattet. ... Alle Personen, welche diese Anordnungen nicht befolgen, setzen sich der Lebensgefahr aus.“

Tagsüber mußte sich jeder beim Betreten und Verlassen des Sperrgebiets ausweisen, gegen Abend riegelte die Polizei die Zugänge zu den Sperrgebieten mit Drahtverhauen und Spanischen Reitern ab. Wer nach 21 Uhr von der Arbeit kam, mußte außerhalb übernachten. Durch die Straßen patrouillieren Doppelposten der Polizei, mit Stahlhelm und Handgranaten ausgerüstet, den Karabiner unterm Arm und kontrollieren, ob etwa ein Fenster geöffnet wird. Trotz dieser Polizeimaßnahmen kommt es immer wieder zu Zwischenfällen.

Am Montag, dem 6.Mai hebt Polizeipräsident Zörgiebel den Ausnahmezustand wieder auf. Die erschreckende Bilanz des „Blutmai“: 33 Tote, 198 Verletzte und 1.228 Festnahmen unter der Bevölkerung. Die Polizei hatte keinen Toten zu beklagen, aber 47 Verletzte, von denen aber nur zehn in ein Krankenhaus eingeliefert werden mußten. Von den 1.228 Festgenommenen wurden 68 verurteilt, davon 32 Personen zu Freiheitsstrafen.

Personelle Konsequenzen hatte der katastrophale Polizeieinsatz nicht. Zörgiebel trat zwar in den „einstweiligen Ruhestand“, aber erst Ende des Jahres 1930. Der sozialdemokratische 'Vorwärts‘ verabschiedete ihn mit den Worten: „Wer sein Wirken von der nächsten Nähe zu verfolgen Gelegenheit hatte, weiß, daß Menschlichkeit und der Wille zu helfen und zu schützen, stets seine leitenden Gesichtspunkte waren.“

Stefan Kirschner