Stammtischweisheiten statt Regierungspolitik

■ Bei der Debatte um die rot-grüne Regierungserklärung war wenig von einem neuen Geist zu spüren / Die CDU hat sich noch nicht an ihre Oppositionsrolle gewöhnt / SPD und AL lieferten Neuauflage der Koalitionsvereinbarungen / Rolle der Vordenkerin unbesetzt

Derzeit wagt noch niemand Wetten darüber abzuschließen, wie lange die rot-grüne Koalition halten wird. Das ist weder ein Zeichen großen Mißtrauens oder, umgekehrt, dem Glauben an ihre Tragfähigkeit geschuldet. Die Regierung Momper, so ist zu beobachten, hat sich schnell und reibungslos etabliert. Kein Wunder - sie wagt nämlich nichts. Pragmatisch haben die SenatorInnen ihre Amtssessel eingenommen und angefangen zu regieren - besser zu reagieren.

Mit Hausbesetzungen und Hungerstreik vergingen die ersten Wochen, dann Washington, jetzt London, Mitte Mai Paris. Der Kiez und die Welt sind spannend. Von der angekündigten neuen Politik für die Stadt hingegen ist nicht viel zu spüren. Nicht sichtbare sogenannte „Erfolge“ sollen hier eingeklagt werden, sondern die fehlenden Ideen, der neue Geist. In der Debatte um die Regierungserklärung am Donnerstag nachmittag ging es ganz einfallslos zu, obwohl es doch, wie der Fraktionsvorsitzende der SPD so treffend bemerkte, eine „herausragende Gelegenheit“ sei, um Grundzüge der Politik zu verdeutlichen.

Der Vorwurf gilt den Regierungsparteien und der Opposition gleichermaßen. Eberhard Diepgen, der neue Fraktionsvorsitzende der CDU, bemängelte, daß der Regierende „kein Wort übrig gehabt hat für die Berlinerinnen und Berliner im anderen Teil unserer Stadt“. Er wirft Momper vor, daß seine Politik zu 90 Prozent Kommunalpolitik sei.

Berlin solle auf „Kleinformat“ zurechtgestutzt und zur „ökologisch vorbildlichen Provinzstadt“ werden. Die CDU dagegen wolle ein Berlin, das von „verantworteter Freiheit“ lebe, „attraktiv und leistungsfähig“ müsse die Stadt sein. Er vermißte eine „Kultur des Helfens“ und den Einsatz Mompers für die „tätige Nachbarschaft“ und so weiter. Selbstverständlich ist es für eine Opposition schwer zu kritisieren, wenn die Regierung noch gar nicht regiert. Doch das eigentliche Problem der CDU ist, daß das, was sie sagt, noch an dem gemessen wird, was sie getan hat. Nicht nur das Wahlvolk sieht die CDU noch als die ehemaligen Machthaber und Wahlverlierer, auch die Partei selbst scheint noch nicht recht zu wissen, was Opposition heißt. Das wäre nicht weiter schlimm, denn derzeit schaut alles auf die Regierung. Die aber, jedenfalls die sie tragenden Koalitionsparteien, scheinen auch nicht recht zu wissen, wo es lang geht jedenfalls nicht langfristig. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Staffelt wiederholte in seiner Rede zur Regierungserklärung nochmal die Koalitionsvereinbarung. Abgesehen davon, daß er sich den Begriff der „Vision“ von der CDU geklaut und ihn mit dem unsinnigen Zusatz „Zukunfts-“ angereichert hat, bleibt er ganz und gar auf dem alten SPD-Teppich.

Getragen von der Wallraffschen „Wir da unten, die da oben„ -Haltung, sprach er von den „kleinen Leuten“, denen in die Tasche gegriffen wird, während die „Pharmaindustrie ungeschoren davon kommt“. Doch das sind Stammtischweisheiten und nicht Grundlagen einer Regierungspolitik. Das „Grundkonzept“, sagte Staffelt, sei „sozial, demokratisch und ökologisch“. Ansonsten wird alles „besser“ und es gibt von vielem „mehr“. Von neuem Stil ist da nicht viel zu spüren.

Die Alternative Liste, der kleine Koalitionspartner, war angetreten, mit dem Anspruch von links Druck auf die SPD auszuüben. Daran wird sich ihre Politik in den nächsten Jahren messen lassen. Sie muß natürlich gleichzeitig für die Regierung geradestehen. Offensichtlich fällt das schwer. Wenn der Abgeordnete Bernd Köppl nun die Regierungserklärung Mompers lobt, ist das schön, doch wenn er sie deswegen lobt, weil sie „spannend“ gewesen sei, so glaubt er das wahrscheinlich selbst nicht. Seine Begründung, sie habe wichtige Probleme angesprochen, ist banal. Wenn er weiter sagt, niemand sei dabei „eingeschlafen“, kann das bestenfalls Heiterkeit auslösen. Daß für die AL die Fragen der Wirtschaftspolitik und der Ökologie im Mittelpunkt stehen, ist gut, doch daß dieser Partei dazu nicht mehr einfällt, als mehr Arbeitsplätze zu fordern und weniger Gift, ist dürftig. Selbst dem Ex-Sozialsenator Ulf Fink fiel zu dem Thema anläßlich einer Kreuzberg-Debatte im letzten Herbst mehr ein. Da war gar von einem „Recht auf Faulheit“ die Rede, und er schien zumindest gedanklich die Arbeitsgesellschaft in Frage zu stellen.

Und es genügt für eine AL auch nicht, sich angesichts der immensen Probleme in den Schulen zu rühmen, daß der rot -grüne Senat in Berlin, wie kein anderes Bundesland die Arbeitszeitverkürzung für Lehrer voll in neue Stellen umgesetzt hat. Kein Wort dazu, welche Funktion Schule heute überhaupt noch haben kann. Die AL könnte im rot-grünen Experiment die Rolle der Vordenkerin übernehmen, statt dessen bleibt sie in traditionssozialistischen Erklärungen und Lösungsmustern stecken.

Mompers Rot-Grün ist eine Koalition des sozial-ökologischen Pragmatismus. Und wie sich die Opposition derzeit präsentiert, braucht niemand sich zu sorgen, sie könnte alsbald den Senat stürzen.

Brigitte Fehrle