„Lohnquote auf historischem Tiefstand“

Die „Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik“ geht im „Memo '88“ von erheblich mehr Arbeitslosen aus  ■  Von Ulli Kulke

In die euphorische Stimmung der Bundesregierung über die vergangenen sieben fetten Jahre großartigen Wirtschaftswachstums hat jetzt die „Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik“ einen gehörigen Wermuthstropfen gegossen. In ihrem gestern vorgelegten „Memorandum 1988“ gehen sie davon aus, daß es derzeit 3,7 Millionen Arbeitslose in der Bundesrepublik gibt, 2,242 offiziell registrierte sowie eine „stille Reserve“ nicht registrierter von 1,427 Millionen. Dem Hinweis aus Bonn auf die neu geschaffenen Arbeitplätze stellen die Alternativ -Gutachter dagegen, daß „heute, sechs Jahre nach Beginn des konjunkturellen Aufschwungs, 924 Arbeitsplätze mehr als 1982 fehlen“. Im übrigen seien „die neu geschaffenen Arbeitsplätze nur zu einem Teil Resultat der konjunkturellen Entwicklung“. Rund ein Drittel sei dagegen durch gewerkschaftlich erkämpfte Arbeitszeitverkürzungen, ein weiterer Teil durch mehr Teilzeitarbeit entstanden.

Die günstige Konjunkturlage täusche darüber hinaus über eklatante Ungleichgewichte hinweg. So stünde einer Arbeitslosenquote von fünf Prozent in Baden-Württemberg eine von 15,3 Prozent in Bremen gegenüber. Diejenige der Frauen liege um 2,2 Prozentpunkte höher als die der Männer. Deutlich verschlechtert habe sich die Einkommenslage der Arbeitslosenhaushalte. Ihr Realeinkommen seit von 1982 bis 1987 um ein Viertel geschrumpft, und betrage heute nur mehr 39 Prozent des durchschnittlichen Arbeitnehmerhaushaltes.

Aber auch die Bruttolöhne und -gehälter seien nur 1988 mit nominal drei, real zwei Prozent Wachstum gewaltig hinter den Bruttoeinkommen aus Unternehmertätigkeit (10,5 Prozent) zurückgeblieben: „In Folge dieser Entwicklung ist die auf der Basis von 1960 bereinigte Lohnquote auf 59,6 Prozent zurückgegangen und erreichte damit einen historischen Tiefstand in der Geschichte der Republik.“

Selbstkritik üben die Wirtschaftsforscher insofern als sie anstelle des hohen Wirtschaftswachstums des vergangenen Jahres (3,4 Prozent) einen ökonomischen Abschwung prognostiziert hatten. In diesem Zusammenhang stellen sie der offiziellen Politik ausnahmsweise ein gutes Zeugnis aus: „Maßgeblich für die unerwartetete Konjunkturbelebung 1988 war erstens die erfolgreiche Geld- und Währungspolitik, die unter dem Eindruck des Börsenkrachs international abgestimmt und expansiv ausgerichtet wurde.“ Zweitens habe der expandierende Welthandel seinen Teil dazu beigetragen. Unter anderem aufgrund der Steuerreform und einer höheren Neuverschuldung als geplant „wirkte die Finanzpolitik der Gebietskörperschaften expansiv, entgegen den Vorstellungen der angebotsorientierten Wirtschaftspolitik“. Im geplanten Binnenmarkt erblickt die „Memo-Gruppe“ mehr Gefahren als Risiken, „vor allem aber vermissen wir Ansätze, das gewaltige Demokratiedefizit der Europäischen Gemeinschaft abzubauen. Nach wie vor hat das Europäische Parlament nur minimale Rechte.“

Ein längerer Forderungskatalog verbirgt sich hinter dem Kapitel „Alternativen zum Patriarchat - gegen Benachteiligung von Frauen im Erwerbsleben und in der Sozialpolitik“: U.a. Quoten in Ausbildung und Beruf sowie bei der Besetzung von Aufstiegsstellen und Ausweitung von Gleitzeitstellen, die heute noch vorrangig auf den Angestelltenbereich beschränkt sei. „Als Alternative zum derzeitigen Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub fordern wir einen dreijährigen Elternurlaub mit Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit und Rückkehrmöglichkeit auf Vollzeitarbeit.“