Großbritannien will groß bleiben

■ Maggie Thatcher will Kohl den Kopf waschen

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Die Auseinandersetzungen in der Nato über die Modernisierung der Kurzstreckenwaffen sind mehr als ein Streit über Sprengköpfe und einen Kohlkopf. Die Panikpolitik der Bundesregierung, das vermutlich letzte Zucken des Kanzlers vor seinem Abgang haben das Bündnis in eine schwere Krise gestürzt. Die neueste Herausforderung Washingtons und Londons durch Bonn - welch niedrigen Motiven sie auch immer entspringen mag - wird als die größte Leistung Kanzler Kohls in die transatlantische und europäische Geschichte eingehen.

Lord Ismay, erster Generalsekretär der Nato, soll einmal erklärt haben, das Bündnis sei dazu da, die Amerikaner in Europa, die Sowjets fern- und die Deutschen niederzuhalten. Spätestens heute, da Gorbatschow vom „gemeinsamen Haus Europa“ spricht und die „Dschörmens“ ihr nationales Selbstbewußtsein wiederentdecken, erweist sich diese Sicht des Verteidigungsbündnisses als zunehmend antiquiert. Nur vordergründig geht es hier um die euphemistisch als „Modernisierung“ getarnte Einführung neuer Kurzstreckenwaffen. Die anglo-amerikanische Achse in der Nato befürchtet, daß der Beginn jeglicher Gespräche über die Abrüstung der atomaren Kurzstreckenraketen bei Gorbatschows Verhandlungsgeschick unweigerlich zu einer dritten Nullösung führen werde - und damit zu einer Gefährdung der Nato -Strategie von der „flexible response“. In Bonn und anderen Nato-Staaten wird dagegen argumentiert, das entspannte Ost -West-Klima erfordere eher politisch flexible Antworten.

Wenn sich Margaret Thatcher - wie in diesen Tagen in London verlautete - am Sonntag in Deidesheim über den Kopf Kohls hinweg in einem Aufrüstungsappell direkt an die Bundesdeutschen wenden wird, dann zeugt diese Arroganz von der Weigerung der Regierungschefin, die BRD als neuerdings gleichberechtigten Bündnispartner zu akzeptieren. Frau Thatchers zu erwartende Kohl-Schelte ist dabei mehr als Modernisierungsmanie. Sie resultiert vielmehr aus dem Bewußtsein, daß der neue bundesdeutsche und der alte englische Nationalismus komplementär sind: Die Macht, die Bonn innerhalb der Nato zu gewinnen sucht, wird London verlieren.

Für Großbritannien stellt das Verteidigungsbündnis die letzte bedeutende Institution dar, in der die ehemalige Kolonialmacht immer noch mehr Bedeutung hat als es der ökonomischen Realität heute entspricht. Dieses Bewußtsein wird auch in der Haltung gegenüber möglichen Alternativen zur Nato deutlich: der WEU und der EG. Während die Franzosen ihre Skepsis gegenüber dem deutschen Nationalerwachen durch die enge Kooperation beider Staaten in der als „europäischer Pfeiler“ der Nato aufgebauten WEU konterkarieren, haben die Briten trotz Mitgliedschaft alle Anstrengungen der WEU eher argwöhnisch beobachtet; liefe doch eine europäische Verteidigungsunion letztlich auf ein Good-bye an die USA hinaus. Und sollte der EG auch noch eine Funktion bei der militärischen Kooperation der Europäer zugewiesen werden, wären die Briten nur noch ein Land unter vielen.

Wie auch immer die „Missile Crisis at Deidesheim“ ausgehen wird, „die deutsche Katze ist aus dem Sack“, wie es der Londoner 'Independent‘ formuliert hat. Ganz gleich, welchen elaborierten Modernisierungskompromiß der Nato-Gipfel im Mai als Kitt für die Risse im Bündnis kneten wird, die Nato wird nicht mehr dieselbe sein.

Rolf Paasch, London