Alternativkonzept für die Nato: Stark nur in der Defensive!

Militärs, Politiker und Wissenschaftler aus dem Westen mit neuem Konzept für die Nato / „Defensive Dominanz“ statt „flexible Antwort“ / Bonner Koalition wegen Kurzstreckenraketen schon wieder gespalten  ■  Aus Bonn Charlotte Wiedemann

Während im Bundestag gestern unter den Koalitionsparteien erneut der Streit um die atomaren Kurzstreckenraketen aufflammte, bekam die Nato unerbetene Hilfe bei ihrer verzweifelten Suche nach einem militärischen Gesamtkonzept. Eine Gruppe von prominenten Wissenschaftlern, Politikern und Militärs aus den USA, Großbritannien und der Bundesrepublik präsentierte ein alternatives Gesamtkonzept zur Abrüstungspolitik. Das Dokument, zeitgleich vorgestellt in Bonn, Brüssel, Washington und London, plädiert für eine dritte Nullösung bei den atomaren Kurzstreckenraketen und die Chance einer Auflösung der Militärbündnisse.

Ausehenerregend sind jedoch eher die Unterzeichner als die Vorschläge im einzelnen: Verfaßt wurde das Konzept von Frank Blackaby, ehemals Direktor des Stockholmer Sipri-Instituts. In den USA wird es unterstützt vom früheren Chef der US -Abrüstungsbehörde, Paul Warnke, sowie von Ex-CIA-Boß William Colby. Zu den bundesdeutschen Unterzeichnern gehört Admiral Schmähling, Leiter des Amts für Studien und Übungen der Bundeswehr; außerdem die beiden Bundeswehroffiziere Wilhelm Nolte und Frank Rödiger von der Hamburger Führungsakademie.

Das alternative Gesamtkonzept will dagegen eine umfassende Antwort geben auf die Frage: Wie sähe ein wirklich sicheres Europa aus? Die Antwort ist nicht friedenspolitisch radikal, bleibt zum Teil hinter Vorschlägen der Sozialdemokraten zurück, aber bezieht sich vorbehaltlos positiv auf den Abrüstungsprozeß in der Sowjetunion. In Anspielung auf den Begriff „Fenster der Verwundbarkeit“ aus dem kalten Krieg heißt es: „Das 'Fenster der Möglichkeiten‘ ist nun weit auf, eine Entwicklung einzuleiten, die die militärische Konfrontation in Europa abbaut.“ Im Mittelpunkt steht dabei der Begriff der „defensiven Dominanz“ - eine Formel, die dem Konzept auch den Titel gab: Von der flexiblen Antwort zur gegenseitigen defensiven Dominanz. Gemeint ist damit eine Veränderung bei Waffensystemen, Doktrinen und Übungen, die für die Verteidigung stark, aber für den Angriff schwach macht.

Im einzelnen schlägt die Gruppe der Nato vor: Das westliche Bündnis soll mit dem Tabu der einseitigen Abrüstung brechen und mit der Verschrottung der atomaren Artillerie beginnen. Auch bei den sogenannten „FoFa„-Systemen, die für Angriffe weit ins gegnerische Hinterland taugen, soll „einseitige Selbstbeschränkung“ geübt werden. Eine defensive Zone in Mitteleuropa soll auch eine regionale C-Waffen-freie Zone sein für den Fall, daß eine internationale C-Waffen -Konvention nicht bald verabschiedet werden kann. Die atomare Abschreckung will die Gruppe allerdings nur auf das Niveau der Minimalabschreckung („eine kleine Zahl unverwundbarer Atomsprengköpfe“) reduzieren. Das war innerhalb der Gruppe umstritten, wie überhaupt ein erster Entwurf des Konzepts radikaler gewesen sein soll.

Zur Perspektive der Nato heißt es: Wenn die Bedrohung durch die Sowjetunion nicht mehr existiere, brauche die Nato sich damit auch nicht mehr zu befassen. Und um Konflikte in Fortsetzung auf Seite 2

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der Dritten Welt solle sich die UNO kümmern, die Nato sei dafür „nicht der richtige Ort“. Um den Druck auf Abrüstungsverhandlungen zu verstärken, damit sie nicht „in feindseliger Weise als Nullsummenspiel“ geführt werden, plädiert die Autorengruppe für eine „starke europäische Abrüstungsbewegung“, die auch staatsunabhängige Organisationen aus den Warschauer-Pakt-Ländern umfassen soll.

„Die Nato kann sich nicht einigen, welchen Zustand sie in Europa überhaupt erreichen will - das hat einen großen Zug von Lächerlichkeit“,

meinte von Bülow (SPD) gestern bei der Konzeptvorstellung in Bonn. Uneinig zeigte sich zur selben Zeit im Bundestag auch wieder die Bonner Regierung: Einen Tag nachdem Kohl den Formelkompromiß zu den Kurzstreckenraketen - baldige Verhandlungen, Entscheidung 1992 - in seiner Regierungserklärung verkündet hatte, legte sich der neue Verteidigungsminister Stoltenberg (CDU) mit der FDP an. Er sprach sich gegen einen späteren Abbau der Kurzstreckenraketen aus, während Genscher die Möglichkeit dieser dritten Nullösung offenhalten will. CSU'ler Huyn sagte, das gemeinsame Koalitionskonzept werde den Anforderungen „in keiner Weise gerecht“.