Der Revolutionär als Prediger

■ Peter Weiss‘ Stück „Marat/Sade“ als traditionelles Guckkasten-Theater am Stadttheater Bremerhaven: Ein pflichtgemäßer Beitrag zum Revolutionsjahr, mehr nicht

Das Stadttheater Bremerhaven liefert mit der letzten Schauspielpremiere in dieser Saison den pflichtgemäßen Jubiläumsbeitrag zum französischen Revolutionsjahr. Es muß natürlich Peter Weiss sein, und die Inszenierung muß sich deutlich abheben von den Bremern, die ein verhaltenes, aber sinnlich reizvolles Spektakel, eine Mischung aus Bilderbogen und Revue vorgestellt haben.

Bremerhavens Oberspielleiter Rainer Steinkamp hat keine Fabrikhalle zur Verfügung, er muß sich mit den Bedingungen eines traditionellen Guckkasten-Theaters arrangieren. Das ist in diesem fall ein wagemutiges Unternehmen. Trotzdem wäre es nicht nötig gewesen, aus dem „Badesaal“ des Hospizes zu Charenton eine Schillersche Moralanstalt zu machen, und aus dem armen Marat einen schulmeisterlichen Prediger, der statt in eine Wanne besser auf eine Kanzel gepaßt hätte.

Nach der Uraufführung 1964 bemängelte Peter Schneider, der

„bizarre Rahmen“ lenke die Zuschauer von der Auseinandersetzung zwischen Marat und deSade ab; durch die formalen Brechungen gewinne das Stück nur scheinbar an Leben. Daraus die Konsequenz zu ziehen, das Spektakel der Anstaltsszenerie als dünnen Zierrat in den Hintergrund zu drängen, heißt, dem Stück endgültig das Leben zu nehmen und es auf ein zähes, trockenes Thesen-Gefecht zu reduzieren.

Steinkamp konzentriert das Geschehen auf den Disput zwischen dem disziplinierten Strategen der Revolution und dem zynischen Genuß-Menschen. Er läßt Marat und deSade im Vordergrund eines gefängnis-grauen Bühnenraums agieren, dicht vor dem Orchestergraben, auf dessen halb hochgefahrener Plattform die Musiker sitzen.

Um alle Zweifel restlos zu beseitigen, zeichnet Steinkamp die Antipoden in schwarz-weiß: Hier der böse, bleichgesichtige Greis

(Dietrich Strass), dort der Gute in der Wanne, dem Andreas Kaufmann mit pathetischem Tinbre in der Stimme die Pose des Heiligen verleiht. Der Konflikt, den Peter Weiss im „Marat/Sade“ in der Schwebe hielt, ist hier - moralisch anständig - gelöst.

Vielleicht wollte Steinkamp ein Zeichen gegen den zeitgeistigen Konsumismus setzen. Wo es aber keine Fragen gibt, löst sich auch der Reiz des Stückes auf. Die Aktionen des übrigen Personals, Hospiz-Patienten, Pfleger, der Anstalts-Direktor, können diese lähmende Entscheidung des Regisseurs für die richtige Seite nicht mehr wettmachen.

Gelähmt wirken auch die Ensemblemitglieder, sowenig ausdifferenziert, so steif sind ihre Bewegungen als Gruppe und als Einzelne. Steinkamp läßt sie unentschieden changieren zwischen oratorischer Strenge und Spektakel.

Zu den wenigen, die die Doppelschichtigkeit der Figuren, das

permanente Spiel im Spiel, glaubhaft durchhalten, gehört Hildegardt Schroedter als Patientin und Marats Lebensgefährtin Simonne Evrard. Kai Tiedemann als Erotomane und Girondist Duperret darf eindreiviertel Stunden lang wie eine Siegessäule mit erhobenem Arm auf der Bühne stehen, um gelegentlich ebenso plump wie peinlich seiner Begleiterin Charlotte Corday (Ines Arndt) an den Busen oder zwischen die Beine zu greifen.

Die kurzen Revoluten der Häftlinge werden nach immergleichem Muster stereotyp abgehandelt. Pfleger schieben die Anstaltsinsassen hinter einen Vorhang, Geschrei erklingt und schwere Ketten rasseln. Koko (Alfred Goos) und Rossignol (Illa Hedergott), die Vertreter des 4. Standes, kommentieren mit ihren Liedern das Geschehen sehr moderat und bescheiden, gar nicht witzig und kämpferisch.

Die Musik (von Hans-Martin Majewski) setzt wenig Akzente, sie wird als sanfter, akademisch und getragen ausgeführter Klangteppich, Hermann Gerner (musikalische Leitung) betont ihren oratorischen Charakter und glättet die ironischen, verqueren Zwischentöne.

Die Sprache aller Figuren wird artig zelebriert, überlangsam, übebetont, plakativ sind die Gesten und Auftritte. Wenn Marat kurz vor seinem Ende aus der Wanne steigt und auf die Plattform eines Kontrollturms klettert, um von dort zu predigen, dann hat diese Inszenierung das ihr entsprechende Bild gefunden. Peter Weiss als Kanzel-Redner mit erhobenem Zeigefinger.

Der ermüdete Betrachter erwartete mit einem Seufzer der Erlösung den „dritten und letzten Besuch der Corday“ bei ihrem Opfer.

Am Ende verschwanden die Spieler laut schreiend aus den Seitentüren des Theaters. Das Publikum hatte Mitleid. Der Applaus war freundlich. „Der marat, der muß doch ganz schön frieren“, sagt eine Besucherin hinter mir.

hans happel