Aus dem Freilichtmuseum des Patriarchats

Den Frauen des schweizerischen Bergkantons Appenzell-Außerrhoden hat eine knappe Männermehrheit das kantonale Stimmrecht beschert  ■  Aus Hundwil Thomas Scheuer

Das hölzerne Podest, hinter dessen Geländer sich die sieben Regierungsräte in Frack und Zylinder aufreihen, erinnert sehr an ein mittelalterliches Schafott. Tatsächlich liegen die Ursprünge des Rituals in voraufklärerischer Zeit: Seit Jahrhunderten versammeln sich die Mannen des schweizerischen Halbkantons Appenzell-Außerrhoden jeden letzten Sonntag im April unter freiem Himmel zur traditionellen Landsgemeinde. In geraden Jahren im Dörfchen Trogen, in ungeraden wie heuer in Hundwil, einem 500-Seelen-Nest, eine halbe Autostunde bergwärts von St. Gallen.

„Liebe Mitlandleute und Bundesgenossen,“ grüßt der Landammann, so heißt offiziell der Häuptling der Außerrhoder, die meist auf Schusters Rappen, einige wenige aber auch mit einem richtigen Pferdegespann herbeigeströmten Stammesmitglieder. Er hat auch ein paar nette Worte übrig für „alle, die wegen ihres Alters, Krankheit oder aus anderen Gründen“ heute nicht dabei sein können. Die vage Kategorie „aus anderen Gründen“ umschreibt immerhin die Hälfte des Himmels: Bis zum vergangenen Sonntag enthielten die Außerrhoder Männer den Frauen das kantonale Stimmrecht vor. Der diesjährige Stimmgang wurde an den Stammtischen des hügeligen Milch-und-Käse-Landstrichs zwischen Bodensee und Alpen schon seit Monaten als die Jahrhundert-Landsgemeinde gehandelt - und möglicherweise als die letzte in ihrer bisherigen Form in Außerrhoden. Denn auf der Tagesordnung der Männerrunde stand zum fünften und letzten Mal: Das Stimmrecht für die weibliche Hälfte des Bergvölkchens.

Insgesamt fünf Kantone der Schweiz, allesamt kleinere, bäuerlich geprägte Gemeinwesen im bergigen Voralpengebiet, pflegen bis zum heutigen Tag die überlieferte Landsgemeinde, deren historische Wurzeln die Wissenschaft im altgermanischen Thing ausmacht: Nidwalden, Obwalden, Glarus und die beiden in Folge der Reformationskämpfe konfessionell getrennten Appenzeller Halbkantone Außerrhoden (reformiert) und Innerrhoden (katholisch). Während in den drei erstgenannten Kantonen Frauen und Männer heutzutage gemeinsam die jährliche Landsgemeinde absolvieren, konservierten die Appenzeller die archaische Urform: Als Stimmrechtsausweis gilt - dem echten Appenzeller ist Papierkram ein Greuel - ein Säbel oder Degen, das überlieferte Symbol der bürgerlichen Ehrenrechte. Die Palette der Hieb- und Stichwaffen reicht vom derben Krummsäbel über zierliche, silberverzierte Herrendegen bis zum schon leicht angerosteten Militärbajonett. Das Votum wird per erhobener Hand abgegeben. Das bierernst zelebrierte Ritual ist keineswegs nur politische Folklore: Zwar leisten sich auch die Appenzeller seit geraumer Zeit ein richtiges Kantonsparlament, aber das letzte Wort über Schulhausneubauten, Straßenbauprojekte, Gesetzesänderungen usw. hat immer noch die Landsgemeinde, die auch Regierungsmitglieder und Richter direkt wählt. Seit Beginn der siebziger Jahre (1971 erhielten die schweizer Frauen als letzte in Europa das Wahlrecht) wurde die politische Legitimation des „größten Männerchors der Schweiz“ (der spöttische Titel bezieht sich auf das zu Beginn jeweils gemeinsam gesungene Landsgemeindelied „Ode an Gott“) immer wieder in Frage gestellt. Vor allem die Verweigerung des Frauenstimmrechts gilt KritikerInnen als Ausbund hinterwäldlerischer Dickschädeligkeit. Dabei geht es den Appenzellern gar nicht darum, ihren Frauen das Wahlrecht zu verweigern, behaupten sie, das diese bei Bundes- oder Kommunalwahlen ja auch wahrnehmen können. Es geht um die Landsgemeinde an sich, heißt es, die ihnen heilig sei. Tradition lautet das Zauberwort, das jede Neuerung als Entweihung des Rituals verbietet: Eine Landsgemeinde mit Frauen sei keine echte Landsgemeinde mehr. Zuletzt wurde gar das Argument bemüht, der Platz reiche nicht aus für Männer und Frauen; ein Witz freilich, angesichts tausender Touristen, die alljährlich die Politzeremonie beäugen.

Auch viele Außerrhoder Frauen stellen ihr Bürgerrecht hinter die geheiligte Tradition: „Hier habe ich das Stimmrecht“, meint etwa Frau Koller, die Gastwirtin und deutet mit einer kreisenden Armbewegung über Hof und Herd, „das ist mir viel wichtiger.“ Auf Bundesebene, bei Kommunalwahlen, in Kirche und Schule hat sie Stimmrecht, das reicht. „Laßt doch den Männern ihre Landsgemeinde“, mahnt sie in gnädig-selbstbewußtem, fast mitleidigem Ton. Und die fast 70jährige Nachbarin assistiert: „Die Männer gehen mit dem Säbel in den Ring. Ja sollen wir denn dann mit dem Wellholz kommen.“

Nun hat sich's im Freilichtmuseum des Patriarchats doch ausgesäbelrasselt: Als am Sonntag unter den Linsen der aus aller Welt angereisten TV-Teams und Fotografen der Kantonsweibel die Mannen aufforderte: „Wer für die Einführung des kantonalen Frauenstimmrechts ist, der bezeuge es mit der Hand“, da reckte sich eine knappe Mehrheit der Hände im damit letztmals frauenfreien Ring in die Höhe. Hätte die Männer-Landsgemeinde das Frauenstimmrecht erneut abgelehnt, wäre es ihr womöglich bald per Verordnung aus Bern aufgedrückt worden. Die Verfassungsbeschwerde einer Interessengemeinschaft für das Frauenstimmrecht lag schon in der Schublade. Ein Bundesdiktat aus der fernen Landeshauptstadt aber hätten die stolzen Appenzeller nicht verkraftet. „Wir mußten dafür stimmen, weil es sowieso gekommen wäre“, gibt sich ein wackerer Säbelträger geschlagen. So haben sie das Unausweichliche denn aus eigener Kraft beschlossen. Über das Schicksal der Landsgemeinde, ob sie zukünftig gemischt-geschlechtlich steigen oder ganz abgeschafft wird, soll nun in einer zweiten Etappe bis 1993 entschieden werden.

Auf ihr kantonales Stimmrecht wohl noch ein ganzes Weilchen warten müssen dagegen die Schwestern im benachbarten Halbkanton Appenzell-Innerrhoden: Während das Frauenstimmrecht im protestantischen Außerrhoden seit Jahren Dauerthema war, steht es im katholischen Innerrhoden derzeit überhaupt nicht zur Debatte. Die Älpler von Innerrhoden bleiben also in Sachen Frauenstimmrecht in Europa die letzten Fossilien.