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Ärztetag mit kritischen Spritzern

In Berlin versammeln sich heute die StandesvertreterInnen der deutschen Ärzteschaft / Die Initiatoren des alternativen Gesundheitstages sind heute Gastgeber des 92.offiziellen Ärztetages  ■  Von Vera Gaserow

Berlin (taz) - Eigentlich, da ist man sich einig, wird es ein „hundsnormaler Ärztetag“ werden, wenn heute die 250 delegierten ärztlichen Standesvertreter aus dem gesamten Bundesgebiet zum 92.Deutschen Ärztetag in Berlin zusammentreffen. Standespolitik, Tätigkeitsberichte und die eigene Arbeitsmarktsituation werden die Diskussion dieser dreitägigen Sitzung des Ärzteparlaments beherrschen. Das Reizthema „Gesundheitsreform“ wird nur in einem Eingangsreferat des Bundesärztekammerpräsidenten Vilmar angerissen. Und wie schon seit Jahren werden die ärztlichen StandesvertreterInnen gleichsam als Zeichen ihrer Staatsverbundenheit und ihrer besonderen Bedeutung am Ende der heutigen Eröffnungsveranstaltung feierlich die Nationalhymne anstimmen - so halten es die Standesfürsten in den weißen Kitteln seit eh und je.

Dennoch hat der Ärztetag in diesem Jahr etwas Besonderes, und das hängt mit seinem Austragungsort Berlin zusammen. Vor genau neun Jahren fand hier als aufsehenerregende Gegenveranstaltung zum offiziellen Ärztetag der erste alternative „Gesundheitstag“ statt. Mehrere tausend TeilnehmerInnen aus dem Gesundheitsbereich setzten dem verknöcherten konservativen Mummenschanz der ärztlichen Standesfürsten ein mehrtägiges Feuerwerk aus medizin -kritischen Diskussionen, Kulturveranstaltungen und Workshops entgegen. Damals wurde in Berlin von der Geburtsstunde einer „Gesundheitbewegung“ gesprochen. Heute ist der Hauptinitiator des „Gesundheitstages“ von 1980, Ellis Huber, als Präsident der inzwischen mehrheitlich links -alternativ zusammengesetzten Berliner Ärztekammer formeller Gastgeber des Deutschen Ärztetages - der Veranstaltung, die vor neun Jahren noch heftig bekämpft wurde.

Gesundheitstag-Initiator Huber will in dieser Entwicklung einen Erfolg der Gesundheitsbewegung sehen, „daß wir die etablierten Institutionen erobert haben“. Nicht nur in Berlin, sondern auch in anderen Landesärztekammern, nehmen sich links oder alternativ verstehende MedizinerInnen inzwischen rund 20 bis 40 Prozent der Sitze ein. Auf dem offiziellen Ärztetag stellen die VertreterInnen oppositioneller Ärztelisten aber dennoch nur 27 von insgesamt 250 Delegierten. Grund genug für Gegenveranstaltungen zum Ärztetag gäbe es daher heute ebenso wie vor neun Jahren, auch wenn Ellis Huber meint: „Ich brauche keinen Gesundheitstag, wenn ich jetzt Gastgeber des Ärztetages bin.“ Daß der Ärztetag neun Jahre nach der Geburtsstunde der Gesundheitsbewegung relativ unbehelligt von Kontrastprogrammen über die Bühne gehen kann, hängt jedoch nicht nur mit einer zunehmenden Einbindung der kritischen Ärzteschaft in den Standesgremien zusammen, sondern auch mit einem Abflauen der Gesundheitsbewegung selber, die sich auf dem letzten „Gesundheitstag“ in Kassel zusätzlich noch zu intern behakte.

Einige Elemente der Gesundheitsbewegung hat jetzt die Berliner Ärztekammer als Gastgeberin des Ärztetages hinüberzuretten versucht. So fand im Vorfeld des offiziellen Teils ein Kongreß unter dem Motto „Zukunftsaufgabe Gesundheitsförderung“ statt, den die links-alternative Berliner Kammer zusammen mit Betriebskrankenkassen und Vertretern der Weltgesundheitsorganisation WHO veranstaltet hat. Zu einem „anderen Ärztetag“ - der dann allerdings nur insgesamt drei Stunden dauerte - kamen darüber hinaus am Sonntag VertreterInnen der innerärztlichen Opposition in den einzelnen Landesärztekammern in Berlin zusammen. Dort halten - ohne großes Diskussionsinteresse - die rund 200 Delegierten der kritischen Ärzteschaft die roten und grünen Stimmkarten für eher symbolische Entschließungen: für die Streichung des § 218, gegen Massenarbeitslosigkeit, für die Unterstützung des Gesundheitssystems in Nicaragua, gegen die atomare Rüstung in Ost und West, für eine 35-Stunden-Woche für Ärzte (bei vollem Lohnausgleich), gegen eine Kriminalisierung von PatientInnen wie in Memmingen. Mit der Lebhaftigkeit des alternativen Gesundheitstages vor neun Jahren hatte dieser „andere Ärztetag“ wenig zu tun. Etliche der verabschiedeten Entschließungen dürften jedoch die alteingesessenen StandeskollegInnen dennoch in Rage versetzen. So hatte der Bayerischen Ärztekammer eine Solidaritätserklärung der Berliner KammerkollegInnen zugunsten des Frauenarztes Dr.Theissen schon ausgereicht, um Berlin als Veranstaltungsort des 92.Ärztetages abzulehnen und einen Boykott in Erwägung zu ziehen.

Erstmals in ihrer Geschichte wird sich die Deutsche Ärzteschaft ganz offiziell mit den eigenen Verbrechen während der Nazizeit beschäftigen müssen. Eine eigens erstellte Ausstellung unter dem Titel „Der Wert des Menschen - Medizin in Deutschland 1918-1945“ und zwei parallel dazu erscheinende Bücher werden erstmals auf einem offiziellen Ärztetag einen Zusammenhang zwischen ärztlichem Menschenbild, medizinischem Foschungswahn und der Vernichtung von Menschen im Dienste der Medizin herstellen.

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