Kurzstrecken-Krise in der Nato

■ Thatcher macht weiter Druck auf Bonn / Genscher erhält Zuspruch von Nato-Partnern

Berlin (afp/ap/taz) - Wird die harte US-Position bei der Raketendiskussion doch noch aufgeweicht? Der amerikanische Verteidigungsminister Cheney traf zumindest am Wochenende auf Widerspruch bei Präsident Bush. Cheney hatte unlängst geäußert, Gorbatschow stünde in der UdSSR auf verlorenem Posten, so daß sich Verhandlungen über die Abrüstung mit ihm erübrigten, da sein Nachfolger wahrscheinlich wieder ein harter Aufrüster sein würde. „Wir wollen den Erfolg der Perestroika“, erklärte Bush.

Davon unberührt bleibt die geharnischte Kritik aus Washington am Bonner Koalitionskompromiß in der Frage der „Modernisierung“ der Kurzstreckenraketen, die die „Eiserne Lady“ aus London bei ihrem Kurzbesuch bei Kohl am Wochenende erneut unterstrich. Allerdings ohne Erfolg beim Bonner Kanzler. Der stellvertretende US-Botschafter bei der Nato und Deutschlandexperte John Kornblum stellte am Sonntag in einem Interview neue Gespräche mit der Bundesregierung in Aussicht. Noch vor dem Nato-Gipfel Ende Mai sollte über einen Kompromiß gesprochen werden. In der Sache blieb Kornblum aber hart. Er bekräftigte die amerikanische Position, atomare Kurzstreckenraketen blieben eine Voraussetzung der gültigen Nato-Strategie. Die Strategie der „flexiblen Erwiderung“ stehe nicht zur Disposition. Wenn ein Partner einen Teil der Strategie in Frage stelle, müßten sich die Vereinigten Staaten fragen, ob der Zusammenhalt des Bündnisses noch für die anderen Elemente gelte. Der Oberkommandierende der Nato-Streitkräfte in Europa, John Galvin, bließ in das gleiche Horn. In einem Interview mit der 'Welt‘ wollte er zwar keine Differenzen in der „großen Strategie“ des Bündnisses sehen, doch stellte er die Frage, „wie viele Nato-Staaten bereit seien, nukleare Waffen anzuwenden, wenn es nötig sein sollte“.

Am Wochenende zeigte sich, daß trotz der hektischen Thatcher-Diplomatie - sie besuchte nicht nur Kohl in Deidesheim in der Pfalz, sondern traf auch mit dem nie derländischen Ministerpräsidenten Fortsetzung auf Seite 2

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Ruud Lubbers und mit dem italienischen Ministerpräsidenten Chiriaco De Mita zusammen - die Bundesrepublik mit ihrer Position in der Nato nicht alleine steht. Der italienische Ministerpräsident, mit dem Kohl heute zusammentrifft, wollte während einer Pressekonferenz in London am Wochenende den Standpunkt Bonns nicht vom Tisch gewischt sehen. Auch in Belgien, Dänemark, Norwegen, Griechenland und Spanien zeigen Regierungspolitiker Verständnis für die

deutsche Position. In Großbritannien ließ die liberale Zeitung 'Independent‘ sogar Hans Dietrich Genscher „zweimal hochleben“, weil er als einziger Politiker des Westens nach Wegen suche, ein konstruktive Antwort auf die Abrüstungsvorschläge von Michail Gorbatschow zu finden. Der französische Verteidigungsminister sieht den Streit in der Nato nur als eine „Krise der Strategie der flexiblen Antwort“ an. Paris befürworte weiterhin, so Chevenement, eine klare Strategie der Abschreckung mit dem Kernstück der französichen Atommacht in Europa.

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