Die kleine Sekunde

Zum Tod von Sergio Leone  ■  Von Thierry Chervel

Die Mundharmonika reibt sich an der kleinen Sekunde, schon seit anderthalb Stunden, sie spürt ihr nach, so wie man nach einem chronischen Schmerz tastet, als müßte man sich vergewissern, daß er noch da ist. Daß diese Dissonanz nicht nur Filmmusik ist, sondern wirklich das Lied vom Tod, erfährt man durch eine Rückblende. Die Szene spielt mitten in der Wüste. Durch die extreme Teleeinstellung, die das Flirren der Hitze und die Luftspiegelungen noch verdichtet, scheint sich das Bild fast zu verflüssigen. Zu hören ist vorerst nur die Mundharmonika.

Leone war ein Epiker. Seine Italo-Western gehören zu den langsamsten Filmen überhaupt, breite, träge Ströme in Cinemascope und mit der Musik von Ennio Morricone. Langweilen kann man sich darin nicht, zu unausweichlich ist ihr Ziel: der Tod. Wie er kommt, interessiert Leone, sein Eintreten vermerkt er nur beiläufig: Nach dreieinhalb Stunden Es war einmal in Amerika verläßt Robert de Niro seine New Yorker Villa und hüpft leichtfüßig in einen Müllaster, dessen inneres Walzenwerk ihn zermalmen wird. Oder ist der Laster nur ein Versteck?

Man merkt den Filmen Leones Lust, sie zu machen, an. Er verfügte über die Mittel seiner Kunst und setzte sie zärtlich und gnadenlos ein wie ein Sadist. Er ließ sich Zeit. Zehn Jahre Vorbereitung kostete ihn Es war einmal.... Seit fünf Jahren stand er in Verhandlungen mit sowjetischen Behörden für seinen Film über die Belagerung Stalingrads; der Drehbeginn war für nächsten Januar angesetzt.

Leone hat das Filmen beherrscht wie eine Muttersprache. Vielleicht liegt das daran, daß schon sein Vater Regisseur war und seine Mutter Filmschauspielerin. Gelernt hat er das Metier als Regieassistent in über sechzig Filmen, unter anderem bei De Sica. Seine ersten Regiearbeiten macht er für Hollywood, Monumentalfilme, wie sie die amerikanischen Studios damals in Cinecitta herstellen ließen: Der Koloß von Rhodos (1960) und Sodom und Gomorrha (1961). Berühmt machten ihn erst die Italo-Western: Für eine Handvoll Dollar (1964), Für ein paar Dollar mehr (1965), Zwei glorreiche Halunken (1966) und - als einer der drei oder vier größten Filme der sechziger Jahre Spiel mir das Lied vom Tod (1968).

Aus dem schwimmenden Horizont löst sich ganz allmählich ein kleiner, noch nicht zu identifizierender Farbfleck. Er kommt auf uns zu, ein Mann. Dann erkennen wir ihn, zuerst an seinem gebeugten Gang, dann an den Augen: Henry Fonda. Er ist es, der die Mundharmonika spielt. Er tritt direkt vors Objektiv, lächelt melancholisch hinein und sagt: „Spiel mir das Lied vom Tod“. Er steckt dem Jungen die Mundharmonika in den Mund. Jetzt erst - nach dem Schnitt - merken wir, daß die minutenlange Einstellung zuvor aus der Perspektive des Jungen gedreht war, der jetzt im Bild ist, subjektive Kamera, der Blick des Jungen, der Henry Fonda auf sich zukommen sieht. Der Junge ist schweißüberströmt und schwankt unter seiner Last. Die Mundharmonika verstärkt und verzerrt seine Atemgeräusche. Auf seinen Schultern steht sein Vater, um dessen Hals eine Schlinge gelegt ist, die wiederum an einem Galgen befestigt ist. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis der Junge zusammenbricht und die Schlinge sich zuzieht.

Leones Tod kam plötzlich. In der Nacht zum Sonntag versagte sein Herz. Leone ist 68 Jahre alt geworden.