Blutiger 1.Mai in Istanbul

■ Mindestens ein Toter bei dem Versuch der Polizei, 1.-Mai-Demonstrationen in der Türkei zu verhindern / Prügel und Festnahmen auch in Seoul, in Prag sowie Danzig und Ost-Berlin / Beijing erstmals ohne die Portäts von Marx, Engels und Lenin

Berlin (taz/afp/dpa/ap) - „Das kann nicht wahr sein, das ist nicht wahr“, schreit der Mann, der in Richtung der dumpfen Geräusche die Tarlabasi Straße zum Goldenen Horn hinunterläuft, es wird scharf geschossen, gezielt auf rund 500 DemonstrantInnen, die in panischer Angst Richtung Kasimpasa rennen. Ein Zivilpolizist in weißem Hemd und einer heruntergekommenen blauen Jacke hat sich auf einer Anhöhe postiert. Er zielt mit seiner Pistole auf die Flüchtenden. Mehrere uniformierte Polizisten tun es ihm nach. Ein Demonstrant wird an der Stirn getroffen. Er geht zu Boden. Blut. Scharen von Presseleuten fotografieren den Mörder, fotografieren den Toten. Der Tote wird in von Polizisten in ein Auto geschoben und weggeschafft. 1.Mai in Istanbul. Der 16jährige Mehmet Adalci hat ihn nicht überlebt.

Auch in Seoul mobilisierten die Behörden gestern insgesamt 21.000 Polizisten, um Demonstrationen zum Tag der Arbeit zu verhindern. Fast 7.000 Menschen wurden am Wochenende in Südkorea vorübergehend festgenommen, nachdem die Behörden Großkundgebungen zum 1.Mai verboten hatten. Tausende Arbeiter und Studenten lieferten sich am Sonntag heftige Straßenschlachten mit der Polizei, die den Kundgebungsort in Seoul und mehrere Universitäten in der Hauptstadt hermetisch abgeriegelt hatte. Mindestens 100 Personen wurden bei den gewalttätigen Zusammenstößen verletzt. In 800 Unternehmen legten die Beschäftigten am Montag die Arbeit nieder.

Mit Tränengas und Wasserwerfern ging die Polizei in Breslau nach unterschiedlichen Angaben gegen 5- bis 7.000 Demonstranten vor, die als Angehörige der radikalen Opposition auch gegen den Dialog von Regierung und Partei mit der von Solidarnosc und Walesa repräsentierten Arbeiterbewegung auftraten. Nachdem der Demonstrationszug etwa zehn Kilometer unbehelligt durch die Straßen der südwestpolnischen Stadt gezogen war, wurde er plötzlich von Polizeifahrzeugen gestoppt, die sich zwischen die Demonstranten schoben. In Danzig zogen etwa 4.000 zumeist junge Polen durch die Innenstadt, nach dem zuvor auf einer Maikund gebung Walesa mehrfach heftig von Solidarnosc-Mitgliedern ange Fortsetzung auf Seite 2

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griffen worden war.

In Warschau nahmen etwa 100.000 Oppositionelle an einem über fünf Kilometer führenden Umzug teil, der schließlich mit der größten Veranstaltung der wieder zugelassenen Opposition seit Ausrufung des Kriegsrechtes im Dezember 1981 am Weichselufer endete. Die Regierung hatte selbst „aus Sparsamkeit“ keine Kundgebungen veranstaltet. Nur auf dem Siegesplatz in Warschau fand am Morgen eine Mai-Zeremonie mit Partei- und Staatschef General Jaruzelski statt.

Beim offiziellen Maiaufmarsch in Prag wurden am Montag auf dem Wenzelsplatz zahlreiche Oppositionelle und Bürgerrechtler von der Polizei festgenommen. Wie ein Zeuge beobachtete, waren unter den mehreren Dutzend abgeführter Personen auch der frühere Sprecher der Charta77, Stanislav Devaty.

Kaum Neues auch in Ost-Berlin: DDR- Staats- und Parteichef Honecker sowie weitere Mitglieder der Führung nahmen die „Kampfdemonstration der Berliner Werktätigen“ von einer Tribüne aus ab. Die traditionellen Losungen zum 1.Mai, 49 Appelle, die im SED-Zentralorgan 'Neues Deutschland‘ abgedruckt waren, enthielten keine Konzessionen an politische Veränderungen in anderen osteuropäischen Ländern. Erstmals fehlt je

doch ein Hinweis auf die Sowjetunion, die im Maiaufruf 1988 noch dreimal genannt wurde. Augenzeugen beobachteten unterdessen, daß Ostberliner Sicherheitskräfte östlich des Brandenburger Tores fünf Menschen festnahmen, die mit Kerzen in der Hand für die Ausreise aus der DDR demonstrierten.

In Moskau stand der Maiumzug allem im Zeichen von Wirtschaftsreform und Umweltfragen, er war gegenüber den Vorjahren durch eine deutliche geringere Ideologisierung gekennzeichnet. Den Abschluß bildete ein Defilee von Bodybuildern, die ihre eingeölten Leiber im Takt von Rockmusik bewegten.

Bei der Maikundgebung in Beijing auf dem Platz des Himmlischen Friedens fehlten die traditionellen Stalin -Porträts. Erstmals wurden auch die „Klassiker“ Lenin, Marx und Engels nicht gezeigt.