„Egal wer demonstriert, wir verhindern es“

In Istanbul versuchten Gewerkschaften, das Recht auf Demos am 1.Mai durchzusetzen Ministerpräsident Özal setzte mit Massenaufgebot an Polizei und Militär seine Ankündigung durch  ■  Aus Istanbul Ömer Erzeren

Verzweifelte Menschen rennen hin und her. Ziellos wollen sie dem Schlachtfeld entkommen. Die Gewalt von 18.000 Soldaten und 18.000 Polizisten, die die Staatsmacht heute einsetzt, dient nur einem Zweck: Zu verhindern, daß Arbeiter mit einer friedlichen Kundgebung den 1.Mai feiern.

Die Wasserwerfer, die Maschinenpistolen, die Gummiknüppel haben nicht ausgereicht. In den uniformierten Grüppchen sind viele Verkehrspolizisten und Wächter. Ihnen hat man Dachlatten, in die Nägel gehauen sind, gegeben. Sie schlagen zu. Für Augenblicke sehe ich, wie sie ein Mädchen in Jeanshose prügelnd in einen Kleinbus stoßen. Einer fummelt mit der Latte zwischen den Beinen der 1.-Mai-Demonstrantin. Die Polizisten erblicken uns. Todesangst. Rennen. Die Schützen, die vor nur einer Stunde gezielt einen Demonstranten töteten, verstecken sich nicht, quittieren nicht den Dienst. Sie sind voll bei der Sache. Auf dem Weg zum Taksim-Platz, dem traditionellen Kundgebungsort für den 1. Mai, treffe ich Journalisten. „Hast du schon gehört? Mehrere Kollegen liegen schwerverletzt im Krankenhaus. Weiter drüben haben sie auch einen erschossen.“ Ein zweiter Toter.

Das gleiche Bild auch auf der Istiklal caddesi - der Straße der Freiheit -, die zum Taksim Platz führt: Hunderte von Polizisten. Auf dem Asphalt Hunderte Schuhe, Transparente und Damenhandtaschen. Die Rufe „Es lebe der 1. Mai“ gehen unter im Gedröhne des Polizeihelikopters.

Die Frage „Wem gehört der Taksim-Platz am 1. Mai“ ist eine Frage mit Geschichte. Am 1. Mai 1977 schossen hier Scharfschützen - mutmaßlich Provokateure des Geheimdienstes

-auf die Menge. Mehrere hunderttausend Arbeiter waren damals dem Demonstrationsaufruf der „Konföderation revolutionärer Gewerkschaften“ DISK gefolgt. 37 kamen an diesem Tag ums Leben. Die Verantwortlichen wurden nicht zur Rechenschaft gezogen. Nach dem Militärputsch wurde der 1. Mai dann einfach als Feiertag abgeschafft.

Tausende Militärs und Polizisten - viele im Nahkampf ausgebildete Anti-Guerilla-Einheiten sind darunter - haben heute den Platz besetzt. Kein Demonstrationszug schaffte es bis zum Platz.

Taksim ist Zentrum der Luxushotels. Fassungslos starren die Touristen das Panorama an. Taksim gleicht einer Kaserne im Krieg. Ein Sammelpunkt: Geschundene und geschlagene Menschen werden zum Abtransport in Busse gestoßen.

Einen Tag zuvor hatten Journalisten Innenminister Abdülkadir Aksu gefragt, ob die Polizei schießen werde. „Über die Details weiß ich nicht Bescheid. Die Präfekten und Polizeipräsidenten entscheiden darüber. Alle Maßnahmen zur Verhinderung illegaler Aktionen sind getroffen.“ Ministerpräsident Özal verkündete, falls der Oppositionsführer Erdal Inönü demonstrieren würde, werde er das zu verhindern wissen. „Egal, wer demonstriert, wir werden es verhindern“.

Mehrere Gewerkschaften haben zu einer Demonstration nicht auf dem Taksim-Platz, sondern auf dem Abidei-Hürriyet-Platz aufgerufen. Doch auch diesen Platz erreichte niemand. „Selbst bei dem Putsch gab es nicht so viel Soldaten auf der Straße“ berichtet ein Werftarbeiter, der mit einem blauen Auge davongekommen ist. „Jetzt erst recht. Diese Toten werden Özal den Kopf kosten.“

Wieviele Arbeiter waren auf der Straße? Niemand vermag es zu schätzen. Zehntausende. Hunderttausende. Wut und haßerfüllt stehen die Menschen in kleinen Grüppchen allerorts herum. „Der Tag der Abrechnung wird kommen“.

Ein alter Arbeiter hat sich alleine auf eine Bank in einer kleinen städtischen Grünanlage gegenüber der Polizeiwache niedergelassen. Er zieht an seinem Rosenkranz. Zwei Polizisten versuchen, ihn zu vertreiben. „Mach dich davon. Hier hast du nichts zu suchen.“ Der Arbeiter bleibt sitzen. Boshaft blickt er die jungen Polizisten an. „Du solltest dich schämen. Ich habe Söhne in deinem Alter. Ich bleibe hier sitzen. ich habe ein Recht darauf.“ Die Polizisten machen kehrt. 12-13jährige Schüler auf dem Schulweg, die die Gewalt vom Klassenzimmer gesehen haben, blicken vorwurfsvoll die Polizisten an. „Wollt ihr auf uns schießen? Wir sind türkische Schüler!“ Am Nachmittag häufen sich Meldungen von Krankenhausärzten über Schußwunden: Die Chirurgen in den OP -Sälen arbeiten ununterbrochen.