KORNTRINKER & TASCHENBUCHLESERIN

■ Ein Streifzug durch die Moabiter Kulturwoche

Zweihundertunddrei Bücher standen in der obersten Reihe der Bücherei. Sechs Reihen waren es an der langen Wand unter dem Schild „Literaturwissenschaften“ - in jeder ungefähr zweihundertunddrei Bücher, macht 1.218, das ist nicht viel. Exponiert klemmten drei Bände auf den Metallhaltern: Marcel Proust, Goethe und „Die deutsche Novelle“. Das zweite schließt das dritte nicht aus. An der kurzen Wand fanden sich nicht einmal halb so viele Werke, dann aber vor allem „Kursbücher“ in allen Farben und der „Brockhaus“. Das Fenster daneben gab den Blick in einen Busch frei. Die zwei Bücherwände bildeten die Seiten a und b des Dreiecks, die Hypothenuse Reihen dunkler Stühle, auf denen sich ein älterer Herr, vier mittelalte Damen mit mittellangen Haaren und eine Handvoll junger Menschen zwischen 16 und 25 niedergelassen hatten. Die meisten saßen paarweise mit übergeschlagenen Beinen. Nur die drei, die zu dritt beieinander hockten, hatten die Füße hochgelegt, und die drei, die allein gekommen waren, hatten das Kinn in die Hände gelegt. Die Blicke waren auf den - Winkel des Dreiecks gerichtet. Ingeborg Stüber las zur Kulturtaxe von fünf Mark in der Bruno-Lösche- Bücherei in der Perleberger Straße deutsche Balladen „von Helden und Heiden“. Zur gleichen Zeit spielte die bundesdeutsche Fußballmannschaft gegen die holländische. Verließ die Dame aus der zweiten Reihe die Bücherei zehn Minuten nach Anpfiff der Lesung so flugs, um den Rest der ersten Halbzeit vor dem heimischen Bildschirm verfolgen zu können? Wahrscheinlicher ist, daß sie in Ruhe ihr Buch von Henry Miller zu Ende lesen wollte, in welchem sie seit zehn Minuten geschmökert hatte. Der ältere Herr neben ihr blieb sitzen und spielte mit dem Daumen in dem Programmheft des Jungen Ensembles, welches zwei Stunden früher an diesem Abend im Jugendfreizeitheim Heinrich Zille mit klassischer Musik aufgespielt hatte.

Im übrigen sahen mit zwei Ausnahmen alle Gäste wohlgenährt und ausgeschlafen aus. Sie hatten bestimmt nicht in einer der benachbarten Imbißstuben ein halbrohes Hühnchen verzehrt und unter einem Berg Mayonnaise nach den Pommes Frites gesucht. In den Moabiter Imbißstuben spucken die Daddelautomaten noch Markstücke in die holzvertäfelten Räume. Die Märker können dann gleich wieder in Zigarettenautomaten gesteckt werden, die ausschließlich die drei meistgekauften Marken führen. Dort trinken die deutschen Männer noch Korn zum Bier, die türkischen Männer müssen allein essen, und Frauen halten sich da, wenn überhaupt, nur hinter der Theke auf. Und Mireille Matthieu trällert hier noch von Liebe, Glück und Leid.

Ingeborg Stüber tobte einer rezitierenden Walküre gleich - falls Walküren lesen können, wer weiß das schon vor den Bücherregalen a und b auf einem Podium mit Stehlampe, Buffetuhr und rotem Plüschsessel - vor letztem der Ironie wegen sicherlich. Sie tobte von Liebe, Fleiß, Rechtschaffenheit, deutscher Seele an sich, Lug und Trug und all dem, was Uhland, Simrock, Kobisch, Strachwitz und Hoffmansthal in ihren schlimmsten Zeiten zusammengereimt hatten. Die Gäste bewiesen Frau Stüber, daß diese Perlen deutscher Dichtkunst nicht vor Ferkel geschmettert wurden, und lachten vielsagend bei Strophen, die historisches Wissen voraussetzten. Bei der Erwähnung eines Freiligrathschen Gedichttitels demonstrierten zwei glucksende Schülerinnen mit lautem Stöhnen, daß sie aus dem Deutschunterricht die nötigen Kenntnisse mitgebracht hatten. Besonderen Applaus erhielt übrigens Uhlands vorfreudsche Sexualmetaphorik.

Ganz still und leise dagegen kam die Kunst in dem kleinen Nachbarschaftsladen in der Huttenstraße daher. Über gestreiften Stühlen, grünen Wachstuchdecken und gelben Nelken in Vasen hingen Photos und Graphiken von Statt Knast Graphik, von Gefangenen der JVA Moabit. In einer Neuköllner Werkstatt sollen jugendliche Gefangene in der Zusammenarbeit mit Jugendlichen aus dem Kiez ihren richterlich verordneten Auflagen wie Gruppenarbeit und Einzelbetreuung nachkommen. Die Arbeiten der Gruppe zeigen, wie der Knastalltag trotz der Resozialisierungsmaßnahmen noch gesehen wird: Aussichten auf Brücken und Gleise sind von Stoppsignalen versperrt. Das braun-grün colorierte Photo eines Polizeibusses mit offener Tür vor einer Knastmauer ist unterschrieben mit „Wer aus Gefängnissen nicht schlechter herauskommt als er hineinging, muß entweder ungewöhnlich geübt in der Praxis der Ungerechtigkeit oder ein Mensch von erhabener Tugend sein“. Die Unterschriftenliste für das Ballhaus Tiergarten, die unter den Arbeiten ausliegt, gibt Aufschluß über die transbezirkliche Anziehungskraft der Ausstellung. Aus allen Stadtbezirken hergereist kamen die BesucherInnen an das Ende der Huttenstraße.

Das alltägliche Einzugsfeld des Nachbarschaftsladens allerdings ist klein. Eingekeilt von einem großen Gewerbegebiet und einem freien Feld, das Richtung Spandau führt, bleiben nur ein paar Altbauten, deren BewohnerInnen die Nachbarschaft bilden. Völlig fehl am Platze wirkt hier am Ende Moabits der Ausstellungsraum eines BMW-Händlers. Bei so einem kleinen Wirkungskreis ist für die Mitarbeiterinnen des Ladens schwierig, die AnwohnerInnen für andere Projekte zu gewinnen als für die Kaffeestube zum nachmittäglichen Plausch, die Sozialhilfeberatung, die Benutzung der Waschmaschine, den Töpfer- und den Photokurs, die ständig angeboten werden. Sowohl die Filmreihe als auch der Frauentag brauchten eine lange Zeit, bis sie regelmäßig besucht wurden.

Die größte Schwierigkeit des gemeinnützigen Vereins aber sind natürlich die knapp bemessenen Senatsmittel. Da der benötigte „Rest“ über Spenden selber erwirtschaftet werden muß, langt das Geld hinten und vorne nicht. Zur Zeit kann noch nicht einmal die Dusche repariert werden. So werden die Räume noch von anderen Gruppen genutzt. Mittwochs zum Beispiel tagt die Redaktionsgruppe der 'Moabiter Times‘, einer 29 cm x 42 cm großen Zeitung mit schön großen Buchstaben und 37 Anschlägen pro Zeile, zwölf Seiten stark zum Preis von einer Mark. Die Aprilausgabe, bereits die 39.Nummer, widmet sich vor allem den geplanten rot-grünen Maßnahmen für Moabit und Tiergarten und berichtet außerdem über braune Umtriebe in den Bezirken. Das Selbstverständnis der 'Moabiter Times‘, die der 'taz‘ vorwirft, sich als „Geburtshelferin der Koalition zur Hauspostille befördert zu fühlen“, findet sich unter der Überschrift „Feuer und Flamme für den Gefrierschrank - oder: Warum wir immer noch nicht in Rente gehen können“: „Wir müssen versuchen zu verhindern, daß Koalitionstaktiker im stillen Bündnis mit erschöpften AktivistInnen die linke Opposition einfrieren - denn wir können sie nicht beliebig wieder auftauen.“

Die 'Moabiter Times‘ hängt am Eingang des Nachbarschaftsladens neben dem Regal mit 'FR's, tazzen und Würfelspielen. Beim Verlassen des Raumes nimmt man sich eine, wirft eine Mark in den Kasten und kann das Blatt in einem der Busse lesen, die von der Huttenstraße direkt zum Jugendfreizeitheim Heinrich Zille in der Rathenower Straße fahren. Dort spielten am Freitag die Cockroaches und die Dontcares vor fünfzig SchülerInnen. Der Saal - eine Standardaula mit ficus benjaminus - rief so vertraute Jugenderinnerungen hervor wie die runden Plastiktürgriffe der genormten Toiletten mit den Mädel/Buben-Piktogrammen. Die echten Mädel und Buben saßen an den Wänden oder standen grüppchenweise im Halbrund um die Bühne. Alles war wie damals, nur das Styling hatte sich geändert: Da laufen die Jungs zu dritt ständig hinein und hinaus, die Hände in den Hosentaschen vergraben, die Schultern hochgezogen großen Schrittes, und verständigen sich wortlos mit ernsten Mienen über sehr wichtige Dinge, die sie hier zu regeln haben. Wer die Band auf der Bühne kennt, ist den Gesichtern abzulesen: „Ich bin auf der Gästeliste!“ Die Mädel tanzten zu den professionell synthetischen Drums der Cockroaches, ein wenig gehemmt und sehr sauber - einszwei, einszwei. Vielleicht lag das an der grauenhaften Abmischung, die mit viel Echo nur Brei goß. Zwei modische Boys störte das gar nicht, sie wirbelten zu zweit umeinander herum, entblätterten sich und warfen ihre Jacken unter Gejuchze davon. Wer übrigens zu wem gehörte, das ließ sich sofort erkennen: Hatte sie das blondgefärbte Haar in einer Tolle nach hinten toupiert, trug er das Haar garantiert glänzendschwarz und ließ vor den Ohren zwei lange Koteletten wachsen. Ob das die Kinder von der Dame mit dem Henry-Miller -Taschenbuch waren?

Claudia Wahjudi