Die Farbe von 1950

■ Ein Gespräch mit dem Regisseur Claude Miller über seine Verfilmung des ältesten, nie verwirklichten Projekts von Fran?ois Truffaut, „Die kleine Diebin“

Gerhard Midding/Robert Müller

taz: Monsieur Miller, bei „La petite Voleuse“ handelt es sich um das älteste, nicht verwirklichte Projekt von Fran?ois Truffaut. Wie sind Sie zu diesem Stoff gekommen?

Claude Miller: Janine Castang, die Titelheldin, erblickte bereits vor mehr als dreißig Jahren das Licht der Welt. Truffaut hat sie ursprünglich als eine Art weibliches Pendant zu Antoine Doinel, der Hauptfigur seines ersten Spielfilms Les Quatre Cents Coups (Sie küßten und sie schlugen ihn) konzipiert: Der Film sollte ursprünglich zwei Protagonisten haben, eben Antoine und Janine, deren Geschichten parallel erzählt werden sollten. Zu dieser Zeit, 1958, verfügte Truffaut aber schon über eine solche Menge an Material, daß er sich entschloß, zunächst den Film über den Jungen zu inszenieren. Den über das Mädchen wollte er später verwirklichen. Truffaut hat diesen Film nie gemacht. Weshalb, weiß ich nicht, aber sein ganzes Leben lang sammelte er Notizen und verfaßte schließlich ein Treatment von ungefähr 30 Seiten, das die Grundlage für La Petite Voleuse bilden sollte. Kurz vor seinem Tod, als er wußte, daß er das Projekt nicht mehr realisieren kann, vertraute er den Entwurf seinem Freund Claude Berri an. Berri selbst konnte die Regie nicht übernehmen, da er zu dieser Zeit gerade mit Jean de Florette beschäftigt war. Nachdem er meinen Film L'Effrontee gesehen hatte und ihn sehr mochte, sagte er sich: Sieh an, Truffauts Stoff müßte doch etwas für Claude Miller sein. Berri gab mir die dreißig Seiten zu lesen, ich fand sie wunderbar und entschied mich augenblicklich, den Film zu machen.

Im Gegensatz zu „Sie küßten und sie schlugen ihn“ spielt die Handlung der „Kleinen Diebin“ auf dem Lande. War das im Treatment so vorgesehen?

Ja, diese Idee stammt von Truffaut. Ich vermute, nachdem er den Film über Antoine in der Stadt gedreht hatte, verspürte er große Lust, die Geschichte des Mädchens auf dem Land zu erzählen.

War es die Tatsache, daß Truffaut dieses Projekt so lange unter seinem Herzen getragen hat, oder war es die thematische Nähe des Stoffes zu denen Ihrer eigenen Filme, die Ihr Interesse geweckt hat?

Der Film verdankt seine Existenz vor allem der guten Nase Claude Berris. Er besaß die Rechte am Treatment und muß wohl gespürt haben, daß gerade dieser Stoff mich mit Sicherheit interessieren würde. Er hätte mir ja auch einen der anderen von Truffaut nicht verfilmten Entwürfe anbieten können. Es war wirklich eine hervorragende Produzentenleistung.

Wie haben Sie sich dem Truffautschen Treatment genähert und es zum Drehbuch erweitert?

Bei dieser Arbeit bin ich ähnlich wie bei der Adaption einer Novelle vorgegangen. Ich habe mich bemüht, alle Ereignisse und Wendungen der Geschichte, die Truffaut im Treatment skizziert hat, zu bewahren, und sei es - wie in einigen Fällen - nur als Episode. Einige Dinge, die Truffaut nur angedeutet hat und die mich in besonderem Maße interessierten, habe ich auch weiterentwickelt. Wenn ich ein Drehbuch erarbeite, versuche ich, den späteren Film bereits möglichst genau festzulegen. Ein Szenarium zu schreiben heißt für mich, mir selbst den Film in der Form zu erzählen, wie ich ihn mir später vorstelle. Bei La Petite Voleuse ist auf diesem Weg aus einem dreißigseitigen Entwurf ein Drehbuch von 150 Seiten mit sämtlichen Dialogen entstanden. Meine Arbeitsweise war dabei die eines Regisseurs, der ein Buch adaptiert.

An einigen Stellen weicht der Film auffällig von Truffauts Treatment ab. Weshalb haben Sie beispielsweise den Schluß verändert?

Truffauts Entwurf sah als Schlußsequenz eine Untersuchung der schwangeren Janine im Krankenhaus vor. Truffaut hätte diese Szene sicher auch so gedreht: einen Radiologen, der auf dem Schirm das sich bewegende Kind betrachtet. Mir aber schwebte ein Ende vor, wie es sich auch in einem Film von Chaplin oder Renoir findet: Jemand begibt sich „en route“, auf eine Reise, einem ungewissen Schicksal entgegen. Da mir aber auch Truffauts Idee für den Schluß gefiel, habe ich seine Version in Form eines Schriftzugs über mein Ende geblendet.

Haben Sie sich bei der Rekonstruktion der Epoche, der frühen fünfziger Jahren in der französischen Provinz, von eigenen Erinnerungen oder von der Recherche leiten lassen?

Von einer Mischung von beidem. Meine persönlichen Erinnerungen sind beschränkt und ziemlich vage, da ich 1950 erst acht Jahre alt war. Dennoch sind die Erfahrungen dieser Zeit in den Film eingeflossen, denn meine Familie stammt aus einem ähnlich bescheidenen sozialen Milieu wie Janine. Zum anderen habe ich mich in die Betrachtung der Photographien von Doisneau und Cartier-Bresson vertieft und mich der zeitgenössischen französischen Filme erinnert. Ich habe mir nochmals die Werke großer Regisseure wie Jaques Becker, aber auch kleine, selbst ausgesprochen schlechte Filme angesehen: Sie gaben mir Auskunft über das Dekor, über die Kleidung der Leute und ihre Art zu reden.

Im Film ist auffallend häufig von sehr konkreten und exakten Geldbeträgen die Rede.

Geld spielte in meiner Jugend eine wichtige Rolle. Gerade für Leute aus bescheidenen Verhältnissen war es von existenzieller Bedeutung, den genauen Preis und Wert einer Sache zu kennen. Diese Erfahrung veranlaßte mich, auf die Nennung möglichst genauer Summen im Film zu insistieren: Dies fügt ihm ein Moment zusätzlicher sozialer Realität ein.

Sie haben von der Bedeutung zeitgenössischer Filme als Inspirationsquelle für die Rekonstruktion der Epoche gesprochen. Steht auch Ihre anfängliche Absicht, „La Petite Voleuse“ in Schwarzweiß zu drehen, mit diesen Kinoerfahrungen in Zusammenhang?

Zu Beginn meiner Arbeit am Drehbuch gelang es mir nicht, die Farben von 1950 zu sehen. Meine Vorstellung von dieser Zeit beruhte in großem Maße auf französischen Schwarzweißfilmen. So fragte ich mich: Was soll das sein, die Farbe von 1950? Ich hatte einfach Angst, mich in diesen Farben zu täuschen. Aus diesem Grunde wollte ich den Film in Schwarzweiß machen. Aber in Frankreich ist dies unmöglich, weil das Fernsehen als Koproduzent der Kinospielfilme fungiert. Letztlich war ich gezwungen, La Petite Voleuse in Farbe zu drehen.

Die verwendeten volkstümlichen Lieder tragen ebenfalls zum Zeitkolorit bei. Verstehen Sie das Chanson „La Petite Hirondelle“ als Hinweis auf die Ambivalenz der französischen Sprache?

Auf einer Ebene erzählt La Petite Voleuse die Geschichte einer jungen Diebin, auf einer anderen die der Adoleszenz, des Übergangs von der Jugend zum Erwachsensein. Das Chanson bot mir die Gelegenheit, durch die Doppeldeutigkeit des Wortes „voler“ beide Aspekte des Films zum Ausdruck zu bringen: Stehlen und Davonfliegen.

Auch das Stehlen selbst erscheint vieldeutig. Janine scheint nicht nur Dinge, sondern auch Erfahrungen zu stehlen.

In der Tat ist nicht der Diebstahl von Gegenständen das eigentlich Bedeutsame. Janine versucht alles zu stehlen, selbst die Gefühle. Sie ist in einem Alter, in dem jede junge Frau und jeder junge Mann Lebenshunger verspürt und die Welt, die Liebe, kennenlernen möchte. Janines Verhalten während des Films ist der Versuch, anderen etwas wegzunehmen, um selbst daraus zu lernen. Auch der Diebstahl eines seidenen Unterrocks oder einer Pelzstola dient dazu, den Übergang zum Erwachsensein zu beschleunigen. Jedes Mädchen von sechzehn empfindet es als reizvoll, sich mit Hilfe von Kleidung, durch das Schminken und das Tragen von Schuhen mit hohen Absätzen als Frau zu geben.

Aber im Gegensatz zu anderen muß Janine diese Dinge stehlen. Sie stiehlt, um schneller erwachsen zu werden.

Auch die Kunst scheint Janine auf ihrem beschwerlichen Weg des Erwachsenwerdens immer wieder Hilfestellung zu leisten.

Die Kunst durchzieht den ganzen Film in einer diskreten Weise: in Form der Lieder, die die Jugendlichen singen, der Malerei des Onkels, der der Bücher, die Michel so liebt, der Photographie, die Janine eine neue Lebensperspektive eröffnet. Die Kunst bewahrt Erinnerung, fixiert Gefühle, Personen und Dinge, die man geliebt hat. In dieser Hinsicht wird die Kunst zu einem wichtigen Teil von Janines Erziehung.

„La Petite Voleuse“ unterscheidet sich von „Les Quatre Cents Coups“ auch dadurch, daß das Heranwachsen mit dem Erwachen der Sexualität einhergeht. Haben Sie diesem Aspekt im Film einen größeren Stellenwert eingeräumt als in Truffauts Entwurf?

Dieses Thema war bereits sehr bewußt von Truffaut in seinem Treatment festgelegt worden. Der Held von Les Quatre Cents Coups ist ein 13jähriger Junge, und die Sexualität spielt in diesem Alter noch keine so wichtige Rolle wie mit 16. Wenn Truffaut gegenüber seinen Freunden oder in Interviews von dem Projekt erzählte, nannte er als Sujet das Erwachen der Weiblichkeit bei einer jungen Frau. Da Truffaut sich einer sehr keuschen Ausdrucksweise bediente, verwendete er das Wort Weiblichkeit (feminite), was aber in Wirklichkeit nichts anderes meinte als Sexualität.

Haben Sie mit der Verwendung einiger für seine Filme charakteristischer Inszenierungsmerkmale, wie der akzentuierenden Irisblende, Truffaut eine Hommage erweisen wollen?

Der Gedanke, die Irisblende zu verwenden, erschien mir in Hinblick auf Truffauts Sujet ganz natürlich. Zum einen zollt sie mit einem kleinen Augenzwinkern Truffaut liebevoll Respekt, zum anderen ist sie ein überlegt eingesetztes stilistisches Mittel, das den Film gliedert und den Blick des Zuschauers auf die wichtigen Dinge konzentriert.

„La Petite Voleuse“ durchzieht ein spürbarer Bruch, als Janine in dem Erziehungsheim für straffällige Mädchen landet. Der Film verliert die Leichtigkeit, die ihn zuvor auszeichnete, und auch der Inszenierungsstil ändert sich.

Es lag ganz in meiner Absicht, daß der Film nach dem Eintritt Janines in das Erziehungsheim härter und rauher erscheint. Die Besserungsanstalt raubt dem Mädchen die Freiheit, die sie zuvor in vollen Zügen genossen hat. Diese Erfahrung verändert ihre Art, die Dinge zu sehen. Diesen Einschnitt in ihr Leben wollte ich deutlich herausarbeiten: Für Janine beginnt ein neues Kapitel, und mit ihm ändert der Film die „couleur“.

In dem Erziehungsheim der Nonnen ereignen sich für Janine zwei entscheidende Dinge: Sie, die bislang nur Liebschaften hatte, erfährt die tiefe Freundschaft einer Gleichaltrigen, und sie erlernt mit der Photographie eine Sache, die ihr eine Perspektive für die Zukunft eröffnet. Die Photographie ist ein Motiv, das sich nicht in Truffauts Treatment findet. Ich habe es eingeführt, um vom Schicksal des Francois Truffaut reden zu können. Wie Sie vielleicht wissen, war Truffaut, als er so alt war wie Janine, ein Streuner, ein Straßenjunge, der bereits verschiedene Besserungsanstalten hinter sich hatte. Er hatte wie Janine einen sehr schlechten Start ins Leben. Dennoch präsentierte er zehn Jahre später auf dem Festival in Cannes seinen Film Les Quatre Cents Coups. Dies war ihm möglich, weil Andre Bazin ihm seine Freundschaft geschenkt und ihn mit dem Kino bekannt gemacht hatte. Ich habe die Geschichte mit dem Photoapparat in den Film eingebracht als Metapher für das Leben von Francois Truffaut.