Eiserner Vorhang weicht zurück

■ Die Ungarn freuen sich, und DDR-Bürger werden melancholisch

Wer hat ihn nicht alles angeklagt, beschrieben und verfilmt. Der Eiserne Vorhang, dieses trutzige und für viele tödliche Symbol des kalten Krieges, wird nun an der Grenze zu Österreich wieder aufgerollt. Befreit von diesem „historisch, politisch und technisch“ überholten Bauwerk, sollen die Ungarn nach dem Willen der Reformer die neue Weltoffenheit unverstellt genießen können. Wer Geld hat, darf jederzeit ins (westliche) Ausland reisen. Die Todesstreifen wieder zu bepflanzen, die Stacheldrahtzäune niederzureißen, die Minen zu entschärfen ist Gebot der Stunde. Und selbst die Grenzbevölkerung soll dabei helfen. Ein „freiwiller Arbeitseinsatz“, zu dem im Gegensatz zu anderen wohl nur einmal aufgefordert werden muß.

Wenn die Grenzsperren unter den Augen von Hunderten von Journalisten zerstört werden, verspricht das zudem einen neuen außenpolitischen Erfolg für die Regierung. Mit Blick auf die Investoren aus dem Ausland, mit den Plänen für die Weltausstellung in Wien und Budapest in den Schubladen wird noch einmal vor aller Welt gezeigt, daß Ungarn vom neuen Weg nicht abzubringen ist. Und ein bißchen Nostalgie schwingt mit: Das wirkliche Bruderland heißt Österreich.

In den bisherigen „Bruderländern“ dagegen ist die Freude über die neue ungarische Offenheit gedämpfter. Für DDR -Bürger war es ja schon lange nicht mehr einfach, nach Budapest zu reisen. Zwar gibt es mit Ungarn keine Visumpflicht, doch ist nach wie vor eine „Reiseanlage für den visafreien Verkehr“ vor der Reise zu besorgen. Unliebsame Kritiker und unsichere Kantonisten werden in Zukunft noch strenger ausgesiebt.

Wenn die DDR-Behörden die Meßlatte für Ungarnreisen noch höher legen, ändert sich für die Rumänen zunächst mal nichts. Denn die Grenze zwischen Ungarn und Rumänien gehört zu den bestbewachten des Kontinents. Auch die CSSR-Bürger sind vielleicht nicht gerade froh, wissen sie doch, daß ihre Behörden Maßnahmen ergreifen werden, um die Reiselust nach Westen via Ungarn einzugrenzen. Doch wäre es wirklich ungerecht, würde man den Ungarn anlasten, daß mit der Öffnung ihrer Grenze nach Österreich der Eiserne Vorhang nach Osten verschoben wird.

Erich Rathfelder