Rot-grüne Deeskalation - trotz Krawallen langfristig erfolgreich

■ Traditionelle 1.-Mai-Krawalle in Berlin-Kreuzberg in neuer Atmosphäre

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Berlins Innensenator ist ein politisch erfahrener Mann und Realist. Doch auch Realisten scheinen bisweilen einen Hang zur Romantik zu haben. Daß man mit einer Strategie zur „Deeskalation“ Krawall in Kreuzberg vermeiden könnte, war eine Hoffnung, nicht nur des Innensenators.

All diejenigen - und die waren in Kreuzberg durchaus noch zahlreich -, die an den Satz „Ohne Bullen kein Krawall“ geglaubt haben, wurden in der Nacht zum 2.Mai 1989 eines Besseren belehrt. Der Krawall war gewollt, gewünscht, gesucht. Und er war vor allem gut organisiert. Daran konnte der Innensenator nichts ändern. Und auch jene nicht, die bislang noch glaubten, vielleicht ein Zipfelchen Einfluß auf die Militanten und die latent zur Gewalt Bereiten zu haben. Die, und dazu zählt auch die AL, sind die eigentlichen Verlierer dieser Nacht. Sie müssen erkennen, daß ihre sozialromantischen Vorstellungen vom Widerstand dem politischen Märchenbuch entspringen.

Die Deeskalationsstrategie als gescheitert zu erklären, weil trotzdem Steine und Mollis geflogen sind, zeugt von einem mechanischen Weltbild. Der Kreuzberger Konflikt ist militärisch nicht zu lösen, nach keiner Seite. Die Wenn-dann -Logik greift hier nicht. Das, was sich in der Nacht an Aggression, Langeweile, Abenteurertum und Eigennutz geäußert hat, wird die Politik noch lange beschäftigen. Die Ursachen jetzt wieder in Armut, Arbeitslosigkeit und sozialer Deklassierung zu suchen ist ebenso formelhaft und zu kurz gegriffen wie der Krawall ritualisiert ist.

Nein, die Deeskalationsstrategie von Innensenator Pätzold war erfolgreich. Nicht unmittelbar, denn er konnte den Krawall nicht verhindern. Doch er konnte beweisen, daß die Polizei in der Lage ist, mit mehr als Schlagstöcken zu agieren. Und er hat erreicht, daß die Linke nicht länger die Augen zumachen und sich mit einfachen Weltbildern aus der Verantwortung ziehen kann. Kreuzberg ist nicht mehr wie vorher. Der 1. Mai 1989 hat einen deutlichen Bruch in die bislang immer vorhandene diffuse Solidarität mit den Krawallen gebracht.

Wenn die Rechte in Bonn und Berlin jetzt das Scheitern von Rot-Grün konstatiert, ist das nur normal und war zu erwarten. Doch über diesen 1.Mai wird der Regierende Bürgermeister Momper und sein Innensenator nicht stolpern. An diesem 1.Mai wird Rot-Grün wachsen. Die Alternative Liste hat sich von den nächtlichen Krawallen erstmals deutlich distanziert. Sie wird es nicht zulassen, daß die Koalition an einem der sogenannten „Essentials“ zerbricht. Das hat sie bereits in der letzten Woche bewiesen, als es um die Einladung an den amerikanischen Präsidenten Konflikte gab.

Der eigentliche Sprengstoff dieser Mainacht liegt zwischen Innensenat und Polizei. Erich Pätzold wird seine ganze Überzeugungskraft aufwenden müssen, den in dieser Nacht eingesetzten Polizeibeamten zu erklären, warum seine Strategie der Deeskalation und Gewaltverhinderung richtig ist, obwohl die Krawalle so extensiv ausgebrochen sind. Warum es - langfristig gesehen - richtig ist, sich lieber einmal eins auf die Mütze geben zu lassen als einmal zuviel auszuteilen. Die Polizei ist es, die auf der Straße für die rot-grüne Taktik geradestehen muß. Und die wird sich das nur solange bieten lassen, wie ihr die Politik des neuen Senats einleuchtet.

Brigitte Fehrle