Kreuzberger Mairitual - Zoff war das Ziel

■ Deeskalationsstrategie von Polizei und Alternativer Liste konnte schwere Randale nicht verhindern

Kreuzberg am Tag danach - anders als nach dem legendären 1.Mai 87 herrscht diesmal keine freundlich-angesäuselte Katerstimmung. Gestern überwog Kopfschütteln und Ärger. Die meisten Kiezinitiativen waren entsetzt. Die Polizei zählte Verletzte und ausgebrannte Autos. Ein Müllmann suchte nach Erklärungen für das Geschehen - vielleicht die Arbeitslosigkeit, der Alkohol? Aber das leuchtet ihm nicht richtig ein. In der Schlange im nahegelegenen Postamt beruhigte man sich damit, daß das ja jeden 1.Mai so sei, man hat sich dran gewöhnt, „aber schön ist Kreuzberg nicht mehr!“.

Berlins Innensenator Erich Pätzold (SPD) war sichtlich geknickt. In der Nacht zum 2.Mai als der Regierende Bürgermeister Walter Momper mit dem AL-Vorstand Ströbele und seinem Innensenator in einer Kreuzberger Kneipe zusammensaß und erste Bilanz der „Ereignisse“ zog, schien die mit so viel Hoffnung auf positive Resonanz aus der Szene verfolgte „Deeskalationsstragie“ gescheitert. Das traditionelle 1.Mai Fest auf dem Lausitzer Platz in SO 36 war, kaum hatte es begonnen, schon zu Ende. Barrikaden brannten, Geschäfte waren geplündert. Steine und Flaschen flogen auf Polizeibeamte, Tränengas in die Leute. Kreuzberg war aufgemischt.

Polizei hielt sich zurück

Ihren Ausgangspunkt nahmen die Krawalle am Nachmittag. Die „Revolutionäre 1.Mai“ Demonstration, veranstaltet von verschiedenen linken und linksradikalen Gruppen, war friedlich zu Ende gegangen. „Es gibt keine Alternative zur Revolution“ hieß die Parole in Anspielung auf den rot-grünen Senat. Immerhin waren es an die 10.000 gewesen, die an diesem sonnigen Mai-Tag durch Kreuzberg und das Arbeiterviertel Neukölln zogen. Die Polizei zog nicht mit jedenfalls nicht sichtbar. Auch als unterwegs Steine auf mehrere Sex-Shops flogen, griff die Polizei nicht ein. Ein Supermarkt wurde geplündert - die Polizei sicherte das Gebäude erst, als der Demozug schon vorbei war. Erst später, als der große schwarze Block vollständig vermummt war, bildeten die Beamten ein lockeres Spalier.

Doch der Zoff war gewollt und vorherbestimmt und der Nachmittag nahm seinen offenbar geplanten Verlauf. Als der Demozug sich auflöste, und ein Großteil der Leute zum Lausitzer Platz auf das Maifest zog, ging in der Nähe ein Getränkemarkt in die Brüche. Traditionell, denn es ist derselbe Laden, der schon 1987, im letzten Jahr und in der Nacht zuvor geplündert worden war. Die vorfahrenden Wannen wurden von etwa 100 Leuten mit Steinen und Flaschen empfangen. Als die Polizei mit Tränengas antwortete, flüchteten die SteinewerferInnen auf den Festplatz. Dort brach Chaos aus, Stände wurden in aller Eile abgebaut, BesucherInnen rannten weg, was stehenblieb ging innerhalb der nächsten zwei Stunden in die Brüche.

Die vielen Gespräche, die es vor dem ersten Mai zwischen den Veranstaltern und der Polizei gegeben hatte, erwiesen sich in dieser Situation als nicht wirksam. „Keine Schlagstöcke“ lautete die Anweisung des Polizeipräsidenten, Tränengas nur mit Sondererlaubnis. Doch die Spielregeln bestimmten die Steinewerfer. „Bitte unterlassen Sie das Werfen mit Steinen und Flaschen auf Polizeibeamte“, mindestens zehnmal erging diese Aufforderung in Richtung Lausitzer Platz. Flogen keine Steine, flog auch kein Tränengas.

„Deeskalation“ zeigte keine Wirkung

Versuche, von den Veranstaltern des Festes, mäßigend einzuwirken schlugen fehl. Und auch Kreuzbergs AL-naher Ex -Baustadtrat Orlowsky, der mit erhobenen Händen auf die schwarz Vermummten zuging, mußte sich beiseite schieben lassen. „Vom rot-grünen Senat haben wir nichts zu erwarten“, hatte die Rednerin auf der Demonstration am nachmittag konstatiert. Das mußte bewiesen werden. Gegen sieben Uhr am Abend räumte die Polizei den Platz. Die Festgäste waren längst nach Hause gegangen, Veranstalter versuchten ihre Habseligkeiten noch zusammenzusuchen. Mitten in den trostlosen Müllbarrikaden hatte ein Türke seinen Kofferraum aufgemacht: „Bier eine Mark“, rief. Absurde Geschäfte im Tränengasnebel.

„Deeskalation“ hieß die Strategie von Innensenator Pätzold. Er wollte ein Signal setzten für die Kreuzberger Szene. Der 1.Mai sollte, so sein Anspruch, friedlich bleiben. Der Polizei jedenfalls hatte klare Anweisungen, sich zurückzuhalten, im Hintergrund zu bleiben. Vermieden werden sollte alles, was Anlaß zu Provokationen hätte geben können. Keine Videoüberwachung, kein Objektschutz, kein Spalier. Vereinzelte Vermummungen sollten kein Anlaß zum Eingreifen sein. Polizei, so hatten es Einsatzleiter und Veranstalter verabredet, sollte weder bei der Demonstration, noch beim Fest in Kreuzberg sichtbar postiert werden. Auch für die erwarteten Hausbesetzungen war man sich einig geworden. Geräumt werden sollte erst am 2. Mai und nur mit möglichst geringen Polizeiaufgebot. Wenn irgend möglich, wollte man Gespräche führen und am Besten gleich Verträge mit den Besetzern abschließen.

Hausbesetzungen

waren einkalkuliert

Doch zu Besetzungen kam es gar nicht. Was als Scharmützel am Lausitzer Platz begonnen hatte, artete in einen regelrechten Stellungskrieg aus. Die Polizei versuchte mit Wasserwerfern, die etwa 1000 Leute auseinanderzutreiben, erfolglos. Die Angreifer warfen Brandsätze auf die Beamten, die sich hinter eine Parkmauer zurückgezogen hatten. „Feuer und Flamme für diesen Staat“, skandierten sie erfreut, wenn es hochloderte. Die Polizei war deutlich in der Defensive. Mehrmals standen etwa ein Duzend Beamte mehreren hundert mit Steinen und Flaschen ausgerüsteten gegenüber. Der Nachschub an Mollies schien gut organisiert. Angriff und Rückzug wohlüberlegt. 335 Polizisten wurden in dieser Nacht verletzt. 20 mußten ambulant im Krankenhaus behandelt werden.

Tankstelle plattgemacht

Die Agression war ziellos. War die Polizei als Gegner nicht präsent, gingen Autos in Flammen auf. Mehr als zwanzig Wagen brannten ab, ohne Ansehen des Fabrikats. Betroffen waren auch mehrere Taxis. Und die Akteure? Auffallend war, daß sich ganze Gruppen türkischer Kids und junger Männer beteiligten. Eine Tankstelle wurde von Jugendlichen zerstört und geplündert. In organisierten Kleingruppen besetzten gutgekleidete Schüler strategische Straßenecken und fachsimpelten „wo die Bullen wohl dicht machen“ würden. Doch die machten nicht „dicht“, jedenfalls nicht so, wie man es zu den Zeiten des früheren Innensenators Kewenig gewohnt war. So blieb die Möglichkeit, auch am späten abend noch einmal den schon erwähnten Getränkemarkt auszuplündern. Scherbenberge türmten sich am Straßenrand. Junge Leute setzten die vollen Flaschen einmal an die Lippen, um sie dann mit Kraft auf die Straße zu schmeißen. Die Szene erinnerte an bourgeoise Festessen, wo das geleerte Champagnerglas an der Wand zerschellt. Bis in die morgenstunden dauerten die Auseinandersetzungen an.

Die Stimmung in Kreuzberg am morgen danach, aber auch schon in der Nacht, ist eindeutig. Es gibt niemanden, der von einer „Provokation“ der Polizei spricht. Dazu war die Absicht, von staatlicher Seite Frieden zu halten, zu deutlich ersichtlich. Die Akteure der Nacht haben sich isoliert. Die Stellungnahmen von Gruppen und Initiativen aus dem Kiez und beispielsweise der AL-Bezirksgruppe sind eindeutig distanzierend. Und ob das Mai-Fest im nächsten Jahr noch einmal wieder stattfinden wird scheint unklar. Man hat keine Lust mehr, die Kulisse für Krawalle abzugeben.%%

Brigitte Fehrle