Demonstration für Perestroika in China

■ Chinesische Studenten in Berlin gingen gestern für politische Reformen in ihrer Heimat auf die Straße

In den USA und Westeuropa gründen dieser Tage chinesische Auslandsstudenten unabhängige Studentenverbände. Damit soll Solidarität mit den Forderungen ihrer Kommilitonen bewiesen werden, die seit zwei Wochen in ganz China für „Demokratie, Pressefreiheit und ein Ende der Korruption“ auf die Straße gehen. Die Studenten stehen über ein Computernetz miteinander in Verbindung. In Bonn versammelten sich gestern zahlreiche chinesische Studenten, die in der Bundesrepublik studieren. In Berlin, wo ca. 400 chinesische Auslandsstudenten leben, kam es zu einer Demonstration, die „sich nicht gegen die KPCh“ richten soll, „aber für eine Demokratie in China“ eintritt, so die Veranstalter. Die Organisatoren Chen Ning, Li Shicha und Xu Huan nahmen zu den Ereignissen in China und im Ausland Stellung.

taz: Soll mit der Gründung eines unabhängigen chinesischen Studentenverbandes jetzt auch im Ausland Druck auf die Regierung in Beijing gemacht werden?

Li: Wir hatten im Ausland bereits Verbände, die relativ autonom waren. Doch wir wollen als Bindeglied zwischen Regierung, in unserem Fall der Botschaft, und Studenten fungieren.

Chen: In den USA wurde vorletzte Woche die „Chinesische Studenten- Solidaritätsgewerkschaft“ gegründet, einige von uns diskutieren darüber, in Deutschland einen ähnlichen Verband zu gründen. Ob es dazu kommt, ist offen.

Das klingt sehr modern, stellen aber die Forderungen nach Demokratisierung der chinesischen Gesellschaft nicht die Macht der KPCh und der Regierung in Frage?

Xu: Ich finde, man sollte sich nicht immer auf die KP fixieren. Ein Mehrparteiensystem ist durchaus vorstellbar, auch die Gründung anderer politischer Organisationen, die auf den politischen Willensbildungsprozeß einwirken, ist vorstellbar.

Li: Unsere Demonstration ist nicht gegen die KP gerichtet, sondern ist für die KP. Wir wollen sie damit ermutigen, mit den Studenten zu sprechen. Aber auch die Studenten in Beijing stellen die Rolle der KP nicht in Frage.

Li: Ich stelle mir vor, daß man in China ein Perestroika -Modell verwirklichen sollte. Demokratie und Freiheit sollten im Vordergrund stehen. Doch im Augenblick ist die KP die einzige politische Kraft, die China regieren kann. Was wir wollen, ist eine Einleitung der politischen Reform.

Auch die KP spricht von der politischen Strukturreform. Ist es das, was ihr wollt?

Li: Es geht uns darum, daß auch das Volk mehr zu sagen hat. Sonst kommt man auch mit der Wirtschaftsreform nicht mehr weiter. Darin sehen wir den einzigen Ausweg für die Entwicklung Chinas überhaupt ...

Chen: ... und da das Volk auch mitzubestimmen hat. Eine Perestroika eben, wie Gorbatschow sie in der UdSSR macht.

Wie realistisch ist das? Demonstrationen wurden ja oft niedergeschlagen in China.

Xu: Wenn man sich die Geschichte anschaut, ist das denkbar.

Chen: Deng Xiaoping hat laut taz einmal gesagt, daß er Bauern und Arbeiter hinter sich habe. Doch die zeigen seit den letzten Demonstrationen Solidarität mit uns. Im Herzen des Volkes wurde die Demokratisierung als notwendig erkannt. Immerhin gingen ein bis zwei Millionen Menschen letzte Woche auf die Straßen. Und selbst die Polizei hat sich sehr freundlich gezeigt.

Li: Je mehr Solidarität wir im Ausland zeigen, desto geringer ist die Chance, daß die Demonstrationen niedergeschlagen werden.

Warum unterstützt das Volk die Studenten in China heute und nicht schon 1987?

Li: Die Wirtschaftsentwicklung der letzten beiden Jahre ist so schlecht, daß auch das Volk eingesehen hat, daß nur eine politische Reform China noch retten kann. Das haben viele zu spüren bekommen.

Chen: Im Zuge der Wirtschaftsreform hat sich die Korruption so sehr eingeschlichen, daß jetzt eine politische Reform notwendig ist.

Die Demonstrationen werden mit dem 4. Mai 1919 verglichen. Steht China am historischen Scheideweg?

Xu: Ich persönlich würde das vergleichen wollen. Es ist seit der Befreiung 1949 das erstemal, daß so viele Studenten geschlossen, gut organisiert und mit Selbstbeherrschung auf die Straße gehen.

Chen: Vor 70 Jahren forderten die Studenten Demokratie und Wissenschaft, und heute fordern sie noch dasselbe. Wissenschaft ist auch heute noch eine bedeutende Forderung, da es heute gegen Dogmatismus und Aberglaube geht, für eine offene Aussprache und Kritik und darum, daß man nicht nur einen ideologischen Aspekt verfolgen sollte.

Li: Ob es eine Wende ist, können wir erst danach sagen. Tatsache ist, daß die Bewegung für Freiheit und Demokratie in China in den Hochschulen und unter der Bevölkerung diskutiert wird. Und das ist eine Bewegung, die sich auch nicht mehr durch harte staatliche Maßnahmen unterdrücken läßt. In diesem Sinne stellen schon die gesamten achtziger Jahre eine Wende in der Denkweise dar.

Chen: Es ist eine bedeutende Wende, und es wird nicht noch einmal 70 Jahre dauern. Die Bevölkerung steht auch hinter uns, weil die Studenten gezeigt haben, daß sie keine zweite Kulturrevolution wollen, sondern nur demokratische Verhältnisse.

Man sagt, die chinesischen Studenten im Ausland wollen wegen der geistigen Enge zu Hause nicht mehr zurück. Stimmt das?

Chen: Mit einem Auslandsstudium kann man gegenwärtig nicht viel in China anfangen. Da bringt es mehr, wenn man sich auf die Straße stellt und etwas verkauft.

Li: Viele schauen in der Tat auf die Ereignisse zu Hause und warten ab. Es stimmt, daß nur eine politische Situation, die Demokratie und Freiheit garantiert, für die Studenten, die im Ausland studiert haben, akzeptabel und für viele mittlerweile Voraussetzung für die Rückkehr ist. Eines ist sicher: Die Bedingungen, die jetzt in China herrschen, finden viele nicht gut.

Chen: Unsere Demonstration zeigt, daß wir ein besseres China wollen. Wenn es uns egal wäre, gingen wir nicht auf die Straße.

Interview: Jürgen Kremb